Video-Plattform YouNow: Seelenstriptease für Jedermann

4.3.2015, 15:31 Uhr
Seit 2011 gibt es YouNow bereits in den USA. Nun hat der Netz-Trend auch Deutschland erfasst.

© dpa Seit 2011 gibt es YouNow bereits in den USA. Nun hat der Netz-Trend auch Deutschland erfasst.

"Bitte, bitte, schenkt uns einen Like!", sagen Marianna und ihre Freundin Nicole in die Webcam, nachdem sie Purzelbäume auf dem Wohnzimmerteppich im Elternhaus geschlagen haben. „Zieht mal eure T-Shirts aus“, kommentiert ein Zuschauer. Die zwei schauen sich an, grinsen, überlegen. „Nee, wir ziehen uns hier jetzt nicht aus“, sagt Nicole und fährt sich durch die blonden, langen Haare.

Seit Wochen ist der Streaming-Dienst YouNow der neue Trend unter Kindern und Jugendlichen. Innerhalb weniger Wochen stieg die Zahl der Nutzer sprunghaft an. Viele davon sind sehr jung und wissen meist nicht, was sie da gerade vor der Webcam tun. Sie wollen berühmt werden, „Internet-Stars“ sein.

"Kinder geben viel zu viel von sich preis"

Auf der Streaming-Seite im Internet können Nutzer ihren Alltag live per Video der ganzen Welt zeigen. Nach der Anmeldung über einen Google-, Facebook- oder Twitter-Account kann jeder per Webcam oder Smartphone-App seine Aufnahmen direkt ins Netz übertragen – eine Art YouTube in Echtzeit mit einer Chat Funktion für Zuschauer und Darsteller. YouNow wirbt mit dem Solgan „Express Yourself“ und zeigt sich als kreativer Pool einer lebendigen Real-Time-Community. Die Realität sieht anders aus: Minderjährige bretzeln sich für die eigene Webcam im Kinderzimmer auf, lassen sich live von fremden Menschen beobachten und verraten intimste Details.

„Die Kinder geben viel zu viel von sich preis, oft ohne das Wissen ihrer Eltern. Stalking und sexueller Belästigung sind hier Tür und Tor geöffnet", sagt die Jugendschutz-Expertin Beate Krafft-Schöning. Sie kämpft seit Jahren dafür, das Internet für Kinder sicherer zu machen. "Das ist ein Paradies für jeden, der irgendwas mit Kindern vorhat, zum Beispiel Pädosexuelle.“

Livestream aus dem Kinderzimmer Jannik ist 15 und kennt sich mit sozialen Netzwerken aus. Seit einem Monat ist der Schüler auch auf YouNow. Er kommt gut an, hat knapp 500 Fans und beantwortet im Live-Chat so ziemlich alles, was seine hauptsächlich weiblichen Follower wissen möchten. Wie er auf WhatsApp heißt und wie auf Instagram, wo er wohnt, wann er Geburtstag hat und ob er Single ist. Immer wieder rückt Jannik seine Justin Bieber Frisur zurecht, im Hintergrund rappt Iggy Azalea.

Auf YouNow kann man Jungs dabei zusehen, wie sie zusammen das neuste Paystation-Spiel zocken, Gangster-Rap hören oder Hausaufgaben machen. Mädchen schminken sich gegenseitig, kochen und reden über ihre Hobbies. „Selbst die unüberlegt ausgeplauderte Kombination aus verschiedenen Informationen, etwa in welcher Stadt man wohnt, in welche Schule man geht und welche Clubs oder Vereine man besucht lässt einen schnell ausfindig machen – auch für Leute, die man nicht kennen lernen möchte,“ warnt Fabian Fiedler, Geschäftsführer des Nürnberger Medienzentrums Parabol.

"Spreiz doch mal die Beine"

Während bei Jannik die Fragen noch harmlos sind, gibt es bei Mädchen fast immer anzügliche Fragen im Chat. So auch bei der 13-jährigen Linda, die auf Shades of Grey steht und, wie ihre Fans finden, viel älter aussieht. „Magst du Würstchen? Gurken? Karotten?“, fragt „Aktiver_Junge“. „Hör mal auf!“, lacht Linda und knabbert an ihren schwarzen Plastikfingernägeln. „Zeig mal deinen Knöchel oder was von deinem Arm“, schreibt ein anderer oder: „OMG, du bist so hübsch“.

Da lacht sie und freut sich: „Danke“, sagt sie und grinst zufrieden. „In nahezu jeder Live-Übertragung von Mädchen gibt es jemanden, der nach genau solchen Informationen oder noch persönlicheren Dingen fragt“, weiß Marike Schlattman vom Deutschen Kinderschutzbund. Unter dem Druck der Live-Übertragung und eventuell anstachelnden Kommentaren, ist die Hemmschwelle, solchen oder anderen Aufforderungen unreflektiert nachzukommen, wohl geringer als im echten Leben.

„Jedes neue Medium birgt Chancen und Risiken, vor allem wenn es von Kindern und Jugendlichen genutzt wird. Den Blick reflexartig auf die eventuell möglichen Risiken zu lenken, da sich mit YouNow wieder eine Nutzung ergibt, die sich teilweise der Kontrolle durch Erwachsene verschließt, vergibt die Chance, zu beobachten und zu verstehen, was Jugendliche an YouNow fasziniert und reizt“, sagt Fiedler.

Sag mir, dass ich schön bin

Für viele Kinder und Jugendliche bietet YouNow vor allem die Möglichkeit, Anerkennung und Aufmerksamkeit zu bekommen – und zwar schneller als bei Facebook, Instagram oder YouTube. „YouNow bietet den Jugendlichen die Möglichkeit sich darzustellen, andere zu unterhalten und zum Lachen zu bringen, Aufmerksamkeit auf die eigene Person zu lenken und damit das Selbstwertgefühl zu stärken“, erklärt Fiedler.

Ein positives Feedback auf das eigene Aussehen ist heute wichtiger denn je. Jugendzeitschriften und TV-Sendungen wie „Germanys next Topmodel“ und „Der Bachelor“ machen es ihnen vor: Nur wenn du gut aussiehst, kommst du weiter. Soziale Netzwerke werden immer mehr dazu genutzt, sich selbst in Szene zu setzen und zu vermarkten. „Auch bei YouTube, Facebook und Co liegt die Faszinationskraft in der Selbstdarstellung, in dem Wunsch nach Anerkennung durch Likes und Kommentare sowie in der Befriedigung darin, andere zu beobachten. Doch durch YouNow bekommen diese Nutzungsmotive eine neue Dimension“, sagt Schlattman.

Jeder Like, jeder positive Kommentar wird heiß herbei gesehnt. Er bedeutet: du bist toll. Für viele Kinder und Jugendliche ist der Zuspruch im Internet so wichtig, dass ihnen die teils weitreichenden Folgen egal sind. Für sie zählt das soziale Ansehen. Was nicht „geliked“ wird, fliegt raus, was viel Zuspruch findet, bleibt im Netz. Privatsphäre hin, oder her.

Kinder unterschätzen die Gefahr

"YouNow" erlaubt die Nutzung des Dienstes bereits ab 13 Jahren. Das Bundesfamilienministerium kritisiert, dass der Anbieter keine Vorsorge betreibt, um Kinder und Jugendliche wirkungsvoll vor Übergriffen und Gefährdungen zu schützen. "Sie erleichtern so Mobbing durch Gleichaltrige und sexuelle Belästigungen durch Erwachsene", erklärt ein Sprecher des Ministeriums. Auch Fiedler sieht die neue Plattform durchaus kritisch: „Zu beobachten sind Beleidigungen und verbale Herabsetzungen sowie ein gewisser Druck der durch die Anzahl der zuschauenden Nutzer steigt.“

Einer Umfrage der EU-Kommission zufolge, bei der rund 25.000 Kinder und Jugendliche in Europa zu ihren Online-Aktivitäten befragt wurden, gaben insbesondere Jüngere an, oft nicht zu wissen, wie sie sich gegen Einblicke von Fremden im Netz schützen.

Um Kindern und Jugendlichen mehr Medienkompetenz zu vermitteln, sind nicht nur Schulen gefragt. Auch zu Hause muss das Thema soziale Medien auf den Tisch. „Eltern sollten sich offen und unvoreingenommen dafür interessieren, was ihre Kinder im Internet machen, sich etwas zeigen und erklären lassen.

Durchaus sollen sie auch aus ihrer Sicht ihre Meinung sagen oder dort, wo sie es altersgemäß für notwendig empfinden, Grenzen setzen“, rät Fiedler. Es ist hilfreich, sich als Elternteil selbst in dem jeweiligen sozialen Netzwerk anzumelden und sich aktiv mit Privatsphäre-Einstellungen, Struktur und Inhalten auseinanderzusetzen.

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