Wie die Corona-Impfdebatte an den Kampf gegen Kinderlähmung erinnert

29.1.2021, 05:51 Uhr
Wie die Corona-Impfdebatte an den Kampf gegen Kinderlähmung erinnert

© Archivfoto: Eva Slevogt

Es war ein ziemlich dramatischer Appell, mit dem sich Nürnbergs damaliger Sozialreferent Max Thoma an die Stadtbevölkerung wandte: "Mit banger Sorge beobachten wir die Entwicklung der Kinderlähmung. Wir stehen an einem Wendepunkt, denn es kann gelingen, diese Krankheit ebenso zu überwinden wie viele Seuchen in der Vergangenheit", wies er auf die am 8. Februar 1962 beginnende Schluckimpfung hin. Im Jahr zuvor waren sieben Nürnberger schwer an der durch den gleichnamigen Erreger ausgelösten Poliomyelitis erkrankt, zwei weitere Bürger waren sogar daran gestorben.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte zu jener Zeit mit der höchsten Polio-Rate in ganz Europa zu kämpfen, nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts war 1961 eine schwere Epidemie mit 4600 Erkrankten, über 3300 Gelähmten und 272 Toten zu Ende gegangen. Und es war nicht das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Kinderlähmung in diesem Ausmaß aufgetreten war: 1952 etwa wurden laut dem Bundesarchiv im damaligen Westdeutschland fast 10 000 Erkrankungen und 778 Todesfälle verzeichnet.

"Riesige Angst vor einer Infektion"

"Meine Eltern hatten riesige Angst davor, dass wir Kinder uns infizieren. Darum haben sie meiner Schwester und mir immer wieder Händewaschen und vorsichtiges Verhalten auf öffentlichen Toiletten eingebläut", erinnert sich der ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete Helmut Ritzer an diese Jahre. Im Bekanntenkreis seiner Mutter habe es einen schweren Fall von Kinderlähmung gegeben – "das ist ihr sehr nahegegangen".

1962 hat der Erlanger, der vor seiner politischen Karriere als Verwaltungsjurist bei der Stadt Nürnberg arbeitete, die erste Schluckimpfung erhalten und erinnert sich an die große Erleichterung danach. "Alle Leute, die da jetzt gegen die Corona-Impfungen polemisieren, sollten mal nachschauen, wogegen sie – Gott sei Dank – bereits geimpft sind", empfiehlt Ritzer. "Diphtherie, Röteln, Kinderlähmung, Tetanus und so weiter, Fernreisende haben sich gegen Hepatitis, vielleicht sogar gegen Gelbfieber impfen lassen, die Daheimgebliebenen gegen die Folgen von Zeckenbissen", argumentiert der ehemalige Vizepräsident des Bayerischen Landtags – warum manche nicht den Segen von Impfungen erkennen wollen, sondern sie als Körperverletzung ansehen, ist für ihn schwer nachzuvollziehen.


Corona-Impfung: So viele Menschen haben sich bereits immunisieren lassen.


Allerdings sind die derzeitigen Debatten um das Für und Wider von aktiven Immunisierungen wahrlich nichts Neues, wie Professor Karl-Heinz Leven weiß. "Impfskeptiker hat es zu jeder Zeit gegeben", sagt der Erlanger Medizinhistoriker, der sich auch mit der Geschichte von Polio eingehend befasst hat. Und da sorgte der damalige Kalte Krieg zwischen den West- und den Ostmächten für Fehlentscheidungen, die aus heutiger Sicht ziemlich absurd wirken.

Die DDR hatte zwei Jahre Vorsprung

So hatte die DDR damals zwei Jahre Vorsprung auf die Bundesrepublik in Sachen Schluckimpfung, bei der ein Lebendimpfstoff aus abgeschwächten Viren eingesetzt wurde. Mit großem Erfolg, doch Experten der westdeutschen Gesundheitsbehörden waren skeptisch und ließen sich Zeit.

Wie die Corona-Impfdebatte an den Kampf gegen Kinderlähmung erinnert

© Foto: Stanislav Honzik/ARD

Dieser Impfstoff war nämlich von dem im damaligen russischen Kaiserreich geborenen und später in den USA forschenden Albert Sabin entwickelt und dann von dem russischen Wissenschaftler Michail Petrowitsch Tschumakow weiterentwickelt worden. Die DDR erhielt den Lebendimpfstoff direkt aus der Sowjetunion, deshalb misstrauten westdeutsche Politiker der Sache und lehnten das Angebot von Willi Stoph, stellvertretender Vorsitzender des DDR-Ministerrats, ab, drei Millionen Dosen des Sabin-Tschumakow-Impfstoffs zur Verfügung zu stellen.

"Angst davor, dass die Russen uns vergiften"

"Manche hatten Angst, dass die Russen uns vergiften wollen", erinnert sich Ritzer, und Karl-Heinz Leven führt diese Wissensdefizite auch auf den damaligen wissenschaftlichen Rückstand der Bundesrepublik zurück. Allerdings ist bis heute nicht klar, ob das Angebot der DDR über reine Propaganda hinausging.

"Zu jener Zeit hatte die Bundesrepublik in Sachen Virologie international null zu melden", erklärt der Medizinhistoriker. Eine Folge der zwölfjährigen Nazi-Diktatur, in der die in der Medizin bis dahin führende Nation "geistig enthauptet" worden sei. "Zahlreiche hochkarätige Wissenschaftler, darunter einige spätere Nobelpreisträger, emigrierten oder wurden vertrieben", erzählt Leven. Viele jüdische Forscher fielen auch dem Holocaust zum Opfer.


Warum die Poli-Impfung für Corona Mut macht.


Welche dramatischen Folgen die westdeutschen Versäumnisse im Einzelfall haben konnten, war vor Kurzem in der ARD-Serie "Charité zu sehen. In einer Folge wird ein Kind aus dem westdeutschen Sektor Berlins mit Symptomen der Kinderlähmung in die im Ostsektor liegende Klinik eingeliefert. Als die Lunge des Jungen kollabiert, muss ihn die von Nina Kunzendorf verkörperte Kinderärztin Ingeborg Rapaport in die "Eiserne Lunge" legen, in der Hoffnung, dass diese sein Leben noch retten kann.

Innenminister machte demonstrativ den Anfang

Anfang 1962 war es dann doch so weit: Als erstes Bundesland führte Bayern flächendeckend öffentliche Schluckimpfungen gegen den Erregertyp I ein, ab 1963 folgte ein Impfstoff gegen den Typ III und ab 1964 ein trivalenter Impfstoff gegen Typ I, II und III des Polio-Virus. Bayerns damaliger Innenminister Alfons Goppel (CSU) ging mit gutem Beispiel voran und leerte vor versammelter Presse einen Becher mit dem in Zuckerwasser aufgelösten Impfstoff.

In Nürnberg wiederum nahm Eduard David, der Leiter des Gesundheitsamtes, als einer der ersten die auf ein Stück Würfelzucker geträufelte Flüssigkeit zu sich, die laut wissenschaftlichen Studien eine zwanzigfach stärkere Immunisierung gegen Polio bewirkte als die bis dahin in der Bundesrepublik bevorzugten Impfungen mit einem Totimpfstoff. Der Andrang im Gesundheitsamt in den darauffolgenden Tagen war gewaltig, und der Erfolg der Schluckimpfungen ließ auch nicht lange auf sich warten: Seit 1965 ist die Zahl der Polio-Erkrankungen in Deutschland konstant unter 50 Fällen geblieben.

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