"Neue globale Championsleague"

5.000 Mal Brüssel und zurück: Das sagt ein fränkischer Europapolitiker zur Zukunft der EU

Ralf Müller

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31.1.2022, 11:17 Uhr
Das Berlaymont-Gebäude, Sitz der EU-Kommission, in Brüssel.

© Arne Immanuel Bänsch, dpa Das Berlaymont-Gebäude, Sitz der EU-Kommission, in Brüssel.

Womöglich hat der mittelfränkische Europapolitiker Ingo Friedrich, der vor wenigen Tagen seinen 80. Geburtstag feierte, einen Rekord aufgestellt. Etwa 5.000 mal dürfte er bisher zwischen Bayern und der EU-Hauptstadt Brüssel gependelt sein, schätzt der ehemalige Europaparlamentarier und Parteivize.

Und ein Ende ist auch mit 80 nicht absehbar: Als Chef der Finanzstiftung der Europäischen Volkspartei (EVP) und Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats ist er nach wie vor zweimal pro Monat in der EU-Hauptstadt unterwegs, dazu regelmäßig als Schatzmeister der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in München. Die belgische Hauptstadt kennt der Gunzenhausener inzwischen besser als mancher Einheimische. "Man muss wissen, wo es schön ist", sagt er zu der weit verbreiteten Ansicht, dass die EU-Metropole vieles sei, nur nicht attraktiv und heimelig.

30 Jahre Abgeordneter

30 Jahre lang, von 1979 bis 2009, gehörte Friedrich dem Europäischen Parlament an, davon acht Jahre lang (1999 bis 2007) als Vizepräsident. Zuvor (1992 bis 1999) war er Vorsitzender der CSU-Abgeordneten in Europaparlament. Drei Mal führte er den Europawahlkampf der CSU als Spitzenkandidat an. Als stellvertretender Parteivorsitzender vertrat er von 1993 bis 2011 die Europapolitik im CSU-Vorstand.

Herr Dr. Friedrich, in Sachen Europa und EU waren Sie trotz aller Krisen bisher immer Optimist. Nun kommt ja die EU seit einigen Jahren aus dem Krisenmodus gar nicht mehr heraus. Sind Sie immer noch so zuversichtlich, was den europäischen Einigungsprozess angeht?

Ingo Friedrich: Meine Einstellung hat sich nicht geändert. In Europa kommt alles, nur meistens etwas später und etwas anders als ursprünglich gedacht. Wenn Sie vergleichen, wie oft zu meiner Anfangszeit - Ende der 70-er Jahre - in den Medien über Europa berichtet wurde, so hat es sich heute verzehn- oder verzwanzigfacht. Heute spielt Europa eine viel größere Rolle als früher, weil immer mehr Fragen national nicht mehr lösbar sind.

Andererseits werden die nationalistischen oder Renationalisierungs-Tendenzen in vielen Mitgliedsländern immer stärker. In Großbritannien haben sie sich schon durchgesetzt. Was geschieht, wenn in Frankreich im Frühjahr die europafeindlichen Rechtspopulisten an die Macht kommen?

Friedrich: Der Austritt Englands hat so abschreckend gewirkt, dass man in dem einen oder anderen Land, in dem ähnliche Überlegungen angestellt wurden, sofort davon Abstand genommen hat. Man hat am Beispiel Großbritanniens gesehen, welche Schwierigkeiten mit einem Austritt verbunden sind. Die Nationalismen sind in der Tat ein neues Problem. Wahrscheinlich muss sich das ganze System doch erst noch "einrütteln" was die konkreten Zuständigkeiten der nationalen und der europäischen Ebene angeht. Das ist heute bis ins Detail noch nicht wirklich austariert. Das Problem wird uns auch in Zukunft begleiten.

EU wird sich nicht auflösen

Und was passiert, wenn in Frankreich Marie Le Pen zur Präsidentin gewählt werden sollte?

Friedrich: Wenn Le Pen oder eine noch radikalere Person in Frankreich gewählt werden sollte, würde das den Einigungsprozess natürlich sehr erschweren, aber es würde nicht zur Auflösung der EU führen.

Sehen Sie irgendwann Großbritannien wieder als EU-Mitglied?

Friedrich: In den nächsten fünf Jahren sehe ich die Rückkehr des Vereinigten Königreichs nicht, aber ich wäre bereit, darauf zu wetten, dass die Briten innerhalb der nächsten zehn Jahre wieder beitreten.

Die amtierende Kommissionspräsidentin von der Leyen wurde nicht durch Europawahl und Parlament bestimmt, sondern über die Köpfe der Volksvertretung. Wie weit hat das Europa bei der Demokratisierung zurückgeworfen?

Friedrich: Frau von der Leyen hat die Position der Kommissionspräsidentin ohne eine Spitzenkandidatur bei der Europawahl erreicht, vor allem weil sich leider das europäische Parlament in dieser Frage nicht einig war. Hätten die Parlamentarier den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber einhellig nominiert, wäre der Ministerrat nicht darum herum gekommen, ihn zum Kommissionspräsidenten zu machen. Das gilt auch für die Zukunft.

Das Spitzenkandidaten-Prinzip wird nicht mehr verändert werden. Wenn das Parlament den Kandidaten mit den meisten Stimmen unterstützt, kann das vom Ministerrat nicht mehr revidiert werden. Das Demokratieprinzip verlangt, das die Europawahl darüber entscheidet, wer Kommissionspräsident wird und nicht irgendwelche anderen Gremien.

In der Corona-Pandemie hat man den Eindruck gewonnen, in der Not macht doch jedes Land, was es will. Hat die EU diese Bewährungsprobe nicht bestanden?

Friedrich: Zufrieden kann man nicht sein. Aber auch in Deutschland ziehen ja nicht immer alle Bundesländer am gleichen Strang. Es geht für die EU darum, dass die großen Fragen, also Erfindung, Weitergabe an arme Staaten, Beschaffung und Verteilung des Impfstoffs gemeinsam geregelt wird.

Sind denn diese "großen Fragen" aus Ihrer Sicht befriedigend bewältigt worden?

Friedrich: "Befriedigend" ist vielleicht ein bisschen zu optimistisch. Aber die Versorgung der EU-Bürger ist schon besser als in vielen anderen Teilen der Welt.

Mehrfrontenproblem mit Russland

Derzeit gibt es in der EU Probleme mit dem Kurs einiger mittel- und osteuropäischer Länder: Polen, Ungarn, auch mit Rumänien und Bulgarien kann man wohl nicht so recht glücklich sein. War es denn richtig, alle diese ehemaligen Ostblockstaaten im Hauruck-Verfahren in die EU geholt zu haben?

Friedrich: Wie bei vielen komplexen Fragen sprechen 51 Prozent dafür und 49 Prozent dagegen. Einerseits hätten wir ohne diese Länder einige Probleme weniger, dafür ganz andere Probleme mehr. Wir hätten dann nicht nur eine Ukraine, sondern angefangen von den baltischen Staaten bis zu Polen und Tschechien ähnliche Situationen, weil das russische Imperium es bis heute nicht verkraftet hat, dass diese Länder aus seinem Einflussbereich ausgeschieden sind. Ohne den Beitritt dieser zehn Staaten hätten wir jetzt eine Mehrfrontensituation.


Pessimisten meinen, in wenigen Jahrzehnten gibt es die EU nicht mehr. Wo sehen Sie die EU in zehn, 20 oder 30 Jahren?

Friedrich: Totgesagte leben erfahrungsgemäß deutlich länger. Nicht unbedingt, weil viele Menschen es so wollen, sondern weil die Fakten es verlangen, wird der europäische Einfluss von Jahr zu Jahr zunehmen. Die Probleme, die national gelöst werden können, nehmen ständig ab.

Nehmen Sie die Pandemie, die Klima- und Umweltpolitik oder die Sicherheit und die Energieversorgung, Zulassung von Medikamenten, usw. Alle diese Fragen haben viel mehr grenzüberschreitenden Charakter als früher. In den nächsten Jahrzehnten wird sich eine neue globale Championsleague herausbilden. Dazu werden natürlich die USA und China gehören. Die Europäische Union muss den Willen haben, auch dazu zu gehören, wenn wir Bürger unsere Lebensart und unsere Werte langfristig bewahren wollen.

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