"Auch die Römer im Kolosseum waren Gaffer"

25.5.2019, 05:52 Uhr
Osnabrücker Filmemacher haben mit dem Schockvideo „Schaulustige – Sei kein Gaffer“ einen Internethit gelandet. Das beklemmende Ende des Clips zeigt eindrücklich, dass jeder Mensch Opfer eines tragischen Unfalls werden kann.

© Foto: Friso Gentsch Osnabrücker Filmemacher haben mit dem Schockvideo „Schaulustige – Sei kein Gaffer“ einen Internethit gelandet. Das beklemmende Ende des Clips zeigt eindrücklich, dass jeder Mensch Opfer eines tragischen Unfalls werden kann.

Die Reaktionen auf WhatsApp lassen nicht lange auf sich warten: Mit Kommentaren wie "Crazy shit", "OMG! Voll heftig" oder "Na, der ist aber gut geröstet . . .", quittieren die Freunde des jungen Mannes dessen Selfie vor einem brennenden Auto und dem vermutlich toten Unfallopfer, vor dem einige Feuerwehrleute knien. Als er das Foto auch seiner Mutter schickt, gibt es jedoch keine Reaktion. Und als er sie daraufhin anzurufen versucht, klingelt das neben dem Unfallfahrzeug auf dem Asphalt liegende Handy.

Über eine Million Mal wurde dieses Anti-Gaffer-Video mittlerweile allein auf YouTube angeklickt und erntet auch in sozialen Netzwerken Lobeshymnen. "Sollte bundesweit als Werbung geschaltet werden. Vielleicht würde das mal mehr wachrütteln!", schreibt ein User; "Ist mir eins zu eins so auf der Autobahn passiert", ein anderer. Weitere Kommentatoren loben, dass damit unserer voyeuristischen Gesellschaft der Spiegel vorgehalten werde.

Wenn Gaffer Rettungskräfte bei ihrer Arbeit behindern und Unfallopfer filmen, gibt es immer wieder die gleichen Reaktionen: Unverständnis oder gar Abscheu und der Ruf nach härteren Strafen. So auch beim jüngsten Fall auf der A 6, bei der ein Polizist angesichts seines beherzten Eingreifens zum Social-Media-Helden wurde. Warum tun es dennoch so viele Menschen?

Adrenalin-Kick mit Suchtgefahr

Weil Gaffen eine urmenschliche Verhaltensweise ist und gerade in früheren Zeiten, als unsere Spezies noch im Freien gelebt hatte, ein wichtiger Schlüssel zum Überleben war. "Für den Menschen war immer wichtig, seine Umgebung auf Gefahren abzuscannen und zum Beispiel sicherzustellen, dass kein Säbelzahntiger im Anmarsch ist", erklärt Polizei- und Einsatzpsychologe Martin Jakubeit. Auch öffentliche Hinrichtungen auf dem mittelalterlichen Marktplatz oder die Gladiatorenkämpfe im alten Rom hätten stets die Neugier der Menschen geweckt, denn beim Beobachten solcher Ereignisse würden ähnliche biochemische Reaktionen wie in Gefahrensituationen in unseren Köpfen ablaufen.

Der Held mit der Lizenz zum Leiden. Im Monumentalfilm „Gladiator“ kämpft Filmstar Russell Crowe im Kolosseum um sein Überleben und befriedigt damit die Sensationsgier der Massen.

Der Held mit der Lizenz zum Leiden. Im Monumentalfilm „Gladiator“ kämpft Filmstar Russell Crowe im Kolosseum um sein Überleben und befriedigt damit die Sensationsgier der Massen. © Foto: Enterpress

"Wenn man so will, waren auch die Zuschauer im Kolosseum Gaffer", bestätigt Professor Frank Lasogga, der sich an der Universität Dortmund viele Jahre lang mit der menschlichen Schaulust auseinandergesetzt hat. Grundsätzlich ist das nichts Verwerfliches, denn der Mensch will sich möglicherweise auch seiner eigenen Unversehrtheit versichern, indem er das Leid anderer miterlebt.

Lasoggas Kollege Michael Thiel nennt als einen Auslöser für das Gaffen die sogenannten Spiegelneuronen im Gehirn, durch die beim Beobachten von Unglücken ähnliche Prozesse beim Schaulustigen ablaufen wie bei den Betroffenen selbst. "Ein Gaffer erlebt einen Adrenalinkick. Das kann durchaus süchtig machen", gibt Thiel zu bedenken. Hinzu kommt nach Ansicht von Verkehrspsychologin Andrea Häußler vom Tüv Süd, dass sich die Menschen an schlimme Bilder, die man unter anderem täglich im Fernsehen sehe, immer mehr gewöhnten. "Man stumpft ein Stück weit ab. Die Distanz geht verloren", sagt Häußler, die auch die ihrer Ansicht nach zunehmende Empathielosigkeit vieler Menschen für den Trend zum immer schamloseren Gaffen verantwortlich macht.

"Die virtuelle Welt der sozialen Netzwerke verändert die Wahrnehmung und fördert eine gewisse emotionale Distanz", glaubt Häußler. Das in die Höhe gehaltene Smartphone wird zum Filter, der die abfotografierte und abgefilmte Welt dahinter ein Stück weit irreal erscheinen lässt. Manchen Menschen gehe deshalb auch die Fähigkeit verloren, sich in denjenigen hineinzuversetzen, der da gerade blutüberströmt am Boden liegt, und dessen Familie vielleicht in den nächsten Minuten den Anruf bekommen wird, dass der Angehörige tot ist. "Man denkt immer weniger in sozialen Beziehungen", kritisiert die Verkehrspsychologin.


Kommentar: Soziale Netzwerke - wo Mitgefühl überbewertet wird


Ob die Digitalisierung tatsächlich die Empathie mancher Menschen verkümmern lässt, kann Frank Lasogga dagegen so nicht bestätigen: "Uns fehlen da schlicht die Vergleichsmöglichkeiten. Im alten Rom gab es ja noch keine Handys", gibt er zu bedenken. Und da der Umgang mit Smartphones und sozialen Netzwerken relativ junge Kulturtechniken sind, steckt auch die Forschung zu den psychologischen Auswirkungen noch in den Kinderschuhen.

In einem Punkt geht Lasogga mit seiner Kollegin allerdings konform: "Inzwischen hat das Gaffen Ausmaße angenommen, die nicht mehr akzeptabel sind", sagt der Dortmunder Experte, für den es bei der menschlichen Schaulust zwei rote Linien gibt: "Die Rettungskräfte dürfen nicht in ihrer Arbeit behindert werden, und die Würde der Opfer muss gewahrt werden", fordert Lassoga und plädiert ebenso wie Andrea Häußler für mehr öffentliche Aufklärung und auch für schärfere Strafen.

"Wenn ich das in die Köpfe der Menschen hineinbringen will, wie unsozial ihr Verhalten ist, dann müssen die Sanktionen richtig weh tun", erklärt die Expertin des Tüv Süd. Als Beispiel nennt sie die Tempolimits in unseren Nachbarländern und die teilweise drakonischen Geldbußen bei Geschwindigkeitsüberschreitungen. "Da hält sich dann auch die überwältigende Mehrheit der deutschen Verkehrsteilnehmer dran."


"Überwältigende Resonanz" nach Gaffer-Rüffel: Polizei bedankt sich


Immerhin: In der jüngeren Vergangenheit mussten sich einige Gaffer bereits vor Gericht für ihre Sensationsgier verantworten. Etwa ein Lkw-Fahrer, der im September 2017 auf der A 8 bei Günzburg einen sterbenden Motorradfahrer aus wenigen Metern Entfernung gefilmt hatte. Wegen unterlassener Hilfeleistung und Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs des Unfallopfers wurde der zum Tatzeitpunkt 50-jährige Berufskraftfahrer zu einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen zu je 30 Euro und einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt.

Werner Schedel, Leiter der Günzburger Autobahnpolizei, kann sich noch gut an den Mann erinnern, der ziemlich kleinlaut war, als ihn die Beamten ausfindig machten und auf sein Verhalten ansprachen. "Er konnte nicht erklären, warum er das gemacht hat", erzählt der Beamte. Ähnlich betreten reagierten auch die Gaffer, die Schedels mittelfränkischer Kollege Stefan Pfeiffer vor einigen Tagen mit deutlichen Worten zur Rede gestellt hatte. Den Leuten sei erst da bewusst geworden, wie tragisch das Ereignis sei, das sie so unbedarft fotografierten und filmten, erklärte der nun im Netz gefeierte Beamte der Verkehrspolizei Feucht.

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