Brendan Simms in Erlangen: Deutsche Macht bringt Europa aus der Balance

3.2.2015, 11:17 Uhr
Brendan Simms in Erlangen: Deutsche Macht bringt Europa aus der Balance

© Klaus-Dieter Schreiter

Die Zuhörer in der Buchhandlung Rupprecht hat der hochgewachsene Mann aus Irland gleich auf seiner Seite. Brendan Simms spricht akzentfreies Deutsch – und besitzt trotz seiner zurückhaltenden Art ein feines Gespür für Humor. „Wenn es Deutschland nicht gäbe, hätte Frankreich keine Innenpolitik mehr“, spitzt Simms seine zentrale These zu. Die lautet – ohne Überspitzung – wie folgt: Deutschland ist der Dreh- und Angelpunkt der europäischen Geschichte. So hat Simms auch sein Buch getauft, „Kampf um Vorherrschaft – Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute“.

Deutschland, argumentiert Simms, bildet die geografische Mitte Europas, ist im 16. Jahrhundert gleichsam Puffer, Schlachtfeld und Querungsgebiet für fremde Heere. „Deutschland war in erster Linie ein Objekt europäischer Politik“, analysiert der 47-Jährige. Europas Mächte streben danach, sich die militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen des in Fürstentümer fragmentierten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation einzuverleiben — oder zumindest zu verhindern, dass dies einem Rivalen gelingt.

Stark, aber nicht zu stark

Der Wiener Kongress 1815 zurrt schließlich ein Gleichgewicht der Kräfte fest. Für Deutschland sieht der Friedensschluss vor: Das Land soll stark genug sein, um keine Begehrlichkeiten anderer Staaten zu wecken, gleichzeitig aber schwach genug, dass es sich nicht selbst zur Vorherrschaft aufschwingen kann.

Erst mit der Reichsgründung 1871 gerät das Gleichgewicht aus der Balance. Das geeinte Deutschland beginnt zwei Weltkriege, wird zweimal vernichtend geschlagen. Der Umgang mit Deutschland, er beschäftigt in diesen Jahrhunderten die anderen europäischen Staaten so sehr, dass er auch in deren Innenpolitik die zentrale Rolle einnimmt, erklärt Simms sein Eingangszitat über ein Frankreich ohne Innenpolitik.

Stark genug, um keine Begehrlichkeiten zu wecken; schwach genug, um nicht selbst Vormacht zu werden: Die Leitidee europäischer Deutschland-Politik bestimmt nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch die Wiedervereinigung. Die Zustimmung zur Einheit erhält die Bundesrepublik nur, weil sie sich im Gegenzug zu einer noch engeren europäischen Integration und zum Euro verpflichtet. „Die deutsche Frage, so schien es, war gelöst.“

Doch ausgerechnet die Instrumente, die das Land einhegen sollen, entpuppen sich als Gründe für die heutige Vormachtstellung Deutschlands, die Europa stets verhindern wollte. „Das ist die große Ironie“, sagt Simms. Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit habe dank der gemeinsamen Währung massiv zu-, die der Südstaaten abgenommen. Die deutsche Frage, die gelöst schien, bestimmt wie die Jahrhunderte zuvor erneut Europas Geopolitik.

EU wie das Heilige Römische Reich

Die EU in ihrer Gesamtheit erinnere ihn ans Heilige Römische Reich Deutscher Nation, fügt Simms an und verweist auf fragmentierte Machtstrukturen und endlose Debatten. Die Lösung der deutschen Frage und der Eurokrise erblickt der Historiker in einer Vollendung der politischen Union nach Vorbild der USA.

Doch Staaten wie die USA seien nicht durch Evolution entstanden, „sondern durch einen Urknall“. Meist kam dieser Urknall in Form einer Bedrohung von außen. Und Simms lässt keinen Zweifel, an wen er da denkt: Zum Geburtshelfer der Vereinigten Staaten von Europa könnte ausgerechnet Russland werden.

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