Der Sound einer Reise

31.8.2018, 08:00 Uhr
Der Sound einer Reise

© privat

Einer Sippe, die es sich von Sippengründung an zum Ziel gemacht hat, alles, was von (familien-)historischer Relevanz sein könnte, auf Bild oder Bewegtbild festzuhalten. Mehr noch: jedem Bild seinen eigenen Soundtrack zu geben.

Insofern empfinde ich nichts als Dankbarkeit und Liebe, wenn ich unseren Spanienurlaub vom August 1992 auf einer Videokassette respektive einer digitalisierten VHS-Aufnahme wiederholen und das, was ich da sehe, jederzeit mit einem bestimmten Song in Verbindung bringen kann. Weil: Aus eigener Erinnerung heraus, da – lassen Sie mich nachdenken – weiß ich wenig bis nix mehr. Was mir im Gedächtnis geblieben ist, ist fast ausschließlich die Musik.

Auf der 18-stündigen 18-hundert-Kilometer-Fahrt höre ich Mick Jagger, Johnny Cash, Kris Kristofferson, Hank Williams, Waylon Jennings, Willie Nelson, Freddie Mercury, Sammy Hagar und Bruce Dickinson. Ich höre viel John Lennon und Paul McCartney. Und Volker Lechtenbrink und Peter Maffay. Ich höre sie heute noch, wie sie mit all ihren Hits aus den Autolautsprechern dröhnen, penibel-perfektionistisch von meinem Vater Olle (ein "Papa" kam mir nie über die Lippen, sein richtiger Name Erolf sei an dieser Stelle totgeschwiegen) von Schallplatten auf Kassetten überspielt. Und abgespielt in unserem alten Fiat Regatta, der mich, Olle, Mama und meinen älteren Bruder Hunderte Kilometer weit von der schwäbischen Iller aus durch die Schweiz und Frankreich bis nach Spanien trägt.

Queen fordern "Don’t stop me now", als wir Bern passieren, Hank Williams offeriert selbst gemachten "Jambalaya" kurz vor Lausanne, die Stones dürstet es bei Genf nach "Satisfaction" und uns nach einer kalten Limo oder einem heißen Kaffee an der Raststätte Richtung Grenoble. Zwischen Avignon und Montpellier dürfen komplett die Beatles ran – das ganze Sgt. Pepper’s-Album und die ersten paar Songs der Yellow-Submarine-LP. Zu unserer Linken: la mer, aus dem schon bald el mar wird. Es begleitet uns fortan – meinem Bruder sei Dank – zu den Klängen von Van Halen und Iron Maiden die läppischen 500 Restkilometer durch Barcelona und Valencia bis zum Zielort Calp, einer Kleinstadt nahe Alicante, die es sich auf einem gen Ibiza ragenden Landzipfel der Costa Blanca gemütlich gemacht hat. Dass wir diesen Urlaub wie schwäbische Könige verbringen konnten, war einem eng befreundeten Ehepaar zu verdanken, welches das unverschämte Glück hatte, hier seit Generationen eine Finca zu besitzen – inklusive Herrenhaus mit weitläufiger Terrasse über einem gigantischen Garten im pittoresk-verwilderten Dschungelbuchstil.

Alles verjährt!

Es folgten: 14 Tage Sonnenbaden am Strand, Faulenzen im Schatten des steil aufragenden Felsens Peñón de Ifach, dem spanischen Pendant zum amerikanischen Devils Tower. Dazwischen: extra lange Sommernächte auf der Finca-Terrrasse, eiskalte Abkühlung unter der Open-Air-Dusche im Dschungelgarten sowie ein unvergessener, durchzechter Abend (elterlicherseits!) beim Hasen- und Sardinen-Essen in einem Restaurante im hügeligen Hinterland, der damit endete, dass mein 15-jähriger (!) Bruder uns unter Anleitung meiner volltrunkenen Mutter im Schritttempo nach Hause fuhr. Eine sangriabedingte Straftat, die inzwischen verjährt sein dürfte – falls die Policía mitliest.

Wenn wir aber schon beim Sangria (vom spanischen sangre für Blut) sind: Für den eigentlichen Aderlass in diesem Urlaub sorgte ich selbst, als es an den gründlichen Hausputz vor der Heimreise ging. Noch heute erzählt meine Mutter gerne in einem Tonfall zwischen Oberlehrerin und Nostalgikerin, wie sie mich beim Durchwischen ermahnte, auf die rutschigen Fliesen achtzugeben. Gesagt, nicht getan – ich muss geblutet haben wie ein Schwein. Es gibt Fotos, die mich vor der Fahrt zum Notarzt zeigen, auf denen mein Kopf mit Dutzenden Spültüchern in eine Art Erste-Hilfe-Turban eingewickelt ist. Mein offenes Kinn wurde kurz nach diesen Bildern fachmännisch von einem ortsansässigen Mediziner zugenäht, den ich noch heute als mediterranen Voodoo-Magier in Erinnerung habe.

Der Sound einer Reise

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26 Jahre später trage ich wegen der unschönen Narbe einen Kinnbart, an dem ich gerade kratzte. Denn ich überlege, was ich hier geschrieben hätte, gäbe es nicht die eingangs genannten Videos, die all das lebhaft dokumentieren. Vermutlich nichts. Außer eben die Musik. Sie hallt in meinem Kopf bis jetzt nach.

Wenn ich heute als 31-jähriger Journalist (und inzwischen selber Familienvater) sehe, wie ich meine fünfjährigen, spindeldürren Gliedmaßen zu den Klängen von "Little Red Rooster" im Finca-Wohnzimmer lasziver verrenke als es Mick Jagger zu seinen besten Zeiten gekonnt hätte, neben mir Olle mit seinen zwei Liebsten (Mama und einer XXL-Flasche San Miguel) tanzt, während sich mein Bruder hinter der Kamera vor Lachen kaum halten kann, wird mir klar: Ich hätte eine durchaus schlimmere Kindheit erwischen können. Aber keinen schöneren, oscarreiferen Urlaub.

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