Justizumbau in Polen: "Ich werde als Staatsfeind behandelt"

11.11.2020, 06:00 Uhr
Justizumbau in Polen:

© Foto: Czarek Sokolowski/AP/dpa

Polens Richter sind so ziemlich das Letzte. Sie verdienen zu viel, gehen im Alter von 30 Jahren in Frührente und halten sich selbst nicht an Gesetze: Richter Pawel Juszczyszyn etwa raste über 50 Stundenkilometer zu schnell durch ein Dorf in den Masuren, wie in der TV-Serie "Kasta" zu hören ist. Und nebenbei erfahren die Zuschauer des polnischen Staatsfernsehens auch, dass Juszczyszyn die landesweiten Richter-Proteste anführt.

"Staatliche Propaganda gegen die Justiz", nennt dies Richter Dariusz Mazur. Er zeigt auch Fotos von öffentlichen Plakatwänden, genutzt von der Regierungspartei, um über Juristen zu klagen – genauer über die Tatsache, dass die dritte Gewalt der Exekutive Grenzen setzen kann.

Justizumbau in Polen:

© Beata Zawrzel/Imago

In einer Online-Konferenz mit Nachwuchsjuristen aus Nürnberg wird Dariusz Mazur deutlich: Die Justizreform in Polen habe den Rechtsstaat zerstört. Er ist seit 24 Jahren in Krakau Richter: "Lange Zeit war ich als Strafrichter tätig, doch seit ich den Justizumbau kritisiere, werde ich als Staatsfeind behandelt." Einen Maulkorb will er sich nicht verpassen lassen und so schildert er vor Rechtsreferendaren, wie in Polen das Recht in Unrecht kippt.

Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Demokratie prägen jedes Rechtsgebiet – doch wie unter dem NS-Regime in Deutschland aus tüchtigen Assessoren furchtbare Juristen wurden, wie noch in der Nachkriegsgeschichte im Justizministerium selbst das Recht gebeugt wurde, dies wurde bislang in der Juristenausbildung stiefmütterlich behandelt.

Das Bewusstsein für die Geschichte muss gestärkt werden, so die Idee von Thomas Dickert, Präsident des Oberlandesgericht Nürnberg. Mit Hilfe von Uwe Frommhold, einem der Leiter der Ausbildung der Rechtsreferendare, wird das Thema mit einer Reihe von Veranstaltungen in die Ausbildung integriert: Die Referendare befassten sich bereits mit dem NS-Unrecht und sahen einem Film über den jüdischen Schuhhändler Leo Katzenberger, sie diskutierten bei einem Besuch in der Israelitischen Kultusgemeinde über Hass-Reden und nun hören sie von Richter Dariusz Mazur aus erster Hand, wie in Polen die Diktatur heraufzieht.

Justiz unter der Parteikontrolle

Mazur steht für die große Mehrheit der 10 000 Richter Polens, die ihre Unabhängigkeit wahren möchten und doch zusehen müssen, wie die Regierung seit 2015 alles daran setzt, die Justiz umzukrempeln und unter ihre Kontrolle zu bringen.

Dabei wähnt sich Jarosław Kaczyński, Gründer und Chef der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" kurz PiS, im Recht. Er behauptet, dass sich in der Richterschaft noch dreißig Jahre nach dem Ende des Staatssozialismus zu viele Kommunisten tummeln.

Die PiS, so hält Dariusz Mazur dagegen, rechne eben, wie es ihr passt: "Ein Richter in Polen ist durchschnittlich 42 Jahre alt, er wurde im demokratischen Polen ausgebildet. Doch diese Wahrheit lassen PiS-Mitglieder nicht gelten."

Justizumbau in Polen:

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Richter Mazur sorgte, nicht nur in Polen, bereits 2015 für Schlagzeilen: Die US-Justiz forderte von Polen die Auslieferung des damals 82 Jahre alten Regisseurs Roman Polanski wegen eines Sexualverbrechens in den 70er Jahren. Als zuständiger Richter wies Mazur das Auslieferungsgesuch als unbegründet zurück – hatte sich Polanski doch 1978 bereits als schuldig bekannt und das Opfer finanziell entschädigt. Er saß 42 Tage hinter Gitter, floh aber vor Festlegung des endgültigen Strafmaßes. Fast 40 Jahre später forderten US-amerikanische Ankläger die Auslieferung von Polanski – sie hofften in den USA als hartnäckige "Promi-Verfolger" auf einen Karrieresprung. Und Polens Nationalpopulisten galt Polanski ohnehin als Kinderschänder, der endlich seiner gerechten Strafe zugeführt werden musste.

Nur Richter Mazur lehnte ab – schlicht, weil das Auslieferungsbegehren nach polnischem Recht unzulässig war. Heute kann der Fall Polanski stellvertretend für die Politisierung der Justiz stehen: An die Stelle des alle verpflichtenden Rechts trat das Prinzip Willkür. Ein Bericht der EU-Kommission vom September 2020 zählt mittlerweile mehr als 30 Gesetze, die Polens Justiz reformieren sollen, doch in Wirklichkeit gegen EU-Recht verstoßen.

Recht wird verdreht

Dariusz Mazur nennt ein Beispiel nach dem anderen: Ein wichtiger Teil der sogenannten Reformen wurde nun vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorerst gestoppt, doch die Regierung in Warschau macht unbeirrt weiter. So setzte die PiS, um unliebsame Richter aus den Ämtern zu drängen, das Rentenalter (für Männer von 67 auf 65, für Frauen auf 60) herab. Malgorzata Gersdorf, die damalige Präsidentin des Obersten Gerichts, wehrte sich gegen die Zwangspension, und ihr Protest wurde zum Politikum: In Polen wurde demonstriert und im Sommer 2019 erklärte der EuGH die Herabsetzung des Ruhestandsalters für europarechtswidrig.

Dies ficht die PiS-Politiker nicht an. Gersdorf wurde älter und nun legal pensioniert und heute steht mit Malgorzata Manowska dem Obersten Gericht eine Parteigängerin vor – für die PiS bedeutsam, bestätigt das Gericht doch unter anderem die Rechtmäßigkeit von Wahlen. Dem EuGH sprechen Parteimitglieder ohnehin das Recht ab, sich in polnische Angelegenheiten einzumischen.

Statt dem EuGH solle das polnische Verfassungsgericht prüfen – dabei ist unbestritten, dass europäisches Recht vor nationales Recht geht, jedenfalls wenn Grundwerte wie die Rechtsstaatlichkeit betroffen sind. Dass sich die PiS nicht um die Gewaltenteilung schert, zeigt sich auch mit der Errichtung der "Disziplinarkammer", und deren Aufgabe ist wörtlich zu nehmen. Die Richter sollen Richter, Staatsanwälte, Anwälte und Notar disziplinieren, abstrafen oder entlassen. Die Mitglieder der Kammer wurden vom Landesrichterrat ausgesucht, und auch dieser Rat wird von der PiS kontrolliert.

Erst jüngst urteilte der EuGH, dass die umstrittene Kammer zur Disziplinierung von Richtern ausgesetzt werden muss. Die Richter von Warschaus oberster Kammer folgten dem EuGH und schrieben, die Disziplinarkammer stelle eine Art Sondergericht dar, das außerhalb jeder Kontrolle stehe, und kein Gericht im Sinne des Rechts der Europäischen Union sei.

Proteste gegen Abtreibungsverbot

Ein Paukenschlag, doch der Vize-Justizminister winkte ab. Die obersten Richter hätten in dem Streit nichts zu sagen, die Entscheidung stehe dem Verfassungsgericht zu, auch dieses wird längst von der Partei kontrolliert.

Wie Recht verdreht werden kann, zeigt sich in diesen Tagen auch angesichts der Proteste gegen das faktisch verhängte Abtreibungsverbot. Hunderttausende demonstrieren. So verwies Zbigniew Ziobro, Justizminister und Generalstaatsanwalt in einer Person, in einem Schreiben an alle Staatsanwälte auf Corona. Die Proteste seien als Gefährdung des Lebens anderer Menschen zu verfolgen – und darauf stehen bis zu acht Jahren Gefängnis.

Tausende gingen in Polen für die Unabhängigkeit der Justiz auf die Straße, nun führt das Abtreibungsurteil, gesprochen vom Verfassungsgericht, zu einem massiven Vertrauensverlust in die Justiz. Kann diesem Machtmissbrauch noch Einhalt geboten werden?

Auch Thomas Guddat, Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Richtervereinigung, beteiligt sich an der Diskussion nach dem Vortrag und verweist auf die EU. Bei ihrem Gipfel Mitte Juli hatten die Staats- und Regierungschefs beschlossen, von 2020 bis 2027 etwa 1,8 Billionen Euro auszugeben, um die coronabedingte Wirtschaftskrise zu mildern. Erstmals könnte die Auszahlung von EU-Geld davon abhängig gemacht werden, ob sich die Empfänger an rechtsstaatliche Prinzipien halten. Die EU muss dem Ausverkauf des Rechtsstaats nicht untätig zusehen.

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