Kommentar: Willmersbach und anderswo

14.9.2011, 22:03 Uhr

Seit März sitzt ein 69 Jahre alter Rentner in Nürnberger Untersuchungshaft. Gegen ihn hat die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Vergewaltigung in 497 Fällen erhoben. Vier Kinder wurden geboren; zwei davon sind schon gestorben. Fragen über Fragen tun sich auf.

Der Mann habe sexuelle Kontakte zu seiner Tochter zugegeben, heißt es von Seiten der Staatsanwaltschaft, er selbst spreche jedoch von einvernehmlichem Sex. Das war zu erwarten. Bei einem solchen Verbrechen funktionieren die Mechanismen des Vertuschens, Ausblendens und Verdrängens.

Nicht nur beim Täter.

Offenbar wusste man im Dorf von den zweifelhaften Verhältnissen in dem Anwesen. Man kannte die Bewohner und tuschelte. Die Dorfjugend brachte das Thema sogar in Kirchweih-Gstanzeln zu Gehör.

Deshalb lohnt es sich, genauer hinzusehen. Was die einen als lästige soziale Kontrolle auf dem Land bezeichnen, ist für andere ein unverzichtbarer Vorteil des Dorflebens. Man borgt sich Werkzeuge, hilft dem Nachbarn beim Hausbau, trifft sich im Wirtshaus oder grüßt sich über den Zaun.

Doch weiß man oft auch um die kleinen und großen Verfehlungen jedes Einzelnen. Darüber wird hinweggesehen, weil in solchen gewachsenen Gemeinschaften jeder Schwachpunkte und Stärken hat. Und alle haben den alten Sinnspruch intus, dass man erst vor der eigenen Tür kehren möge, bevor man einen Nachbarn anschwärzt.

Natürlich lässt sich im Nachhinein leicht sagen, dass in Willmersbach die soziale Kontrolle versagt hat. Denn die Situation dort ist nun einmal eine andere als etwa in der Anonymität eines Großstadt-Hochhauses, wo mitunter die Leichen von Menschen erst nach Wochen gefunden werden und Kindsmissbrauch unentdeckt bleibt, weil niemand den anderen kennt, geschweige denn nachgefragt wird.

Vor schneller Schuldzuweisung sei indes gewarnt. Denn wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein. Jeder und jede von uns muss sich fragen lassen, wie es um den jeweils eigenen Ungeist der Verleugnung bestellt ist. Unliebsame Schwangerschaften werden auch von Angehörigen nicht wahrgenommen. Nicht selten sind es Ehefrauen, die den Kindsmissbrauch durch ihre Ehemänner vertuschen, Kinder verhungern, weil Eltern haltlos geworden sind.

Nennen wir es ruhig moralische Verödung, von der wir Menschen immer wieder infiziert werden. Und das ist keine Zeiterscheinung; das gab es immer schon. Was dagegen zu tun ist?

Es ist das alte, verstaubte Wort Gewissen, an das es zu erinnern gilt. Gewissensschärfung ist eine lebensnotwendige Übung, die uns Menschen ein ganzes Leben begleiten muss. Sie allein führt zur Zivilcourage, die hilft, Bündnisse der Mitwisserschaft zu durchbrechen

Eine Tugend übrigens, die auch für Journalisten gilt. Sie müssen hinschauen, wenn Verbrechen geschehen sind, wie die in Willmersbach. Und dabei in Kauf nehmen, als lästig, skandallüstern und voyeuristisch bezeichnet zu werden. Doch gerade Öffentlichkeit kann dazu beitragen, Nachbarn, Angehörige und Behörden hellhörig und achtsam zu machen.

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