Martin Luther King: Ein Mann, der für einen Traum starb

10.4.2018, 08:26 Uhr
Historischer Auftritt: Martin Luther King winkt am 28. August 1963 seinen Anhängern auf der Mall in Washington zu. Dort hielt er seine wohl berühmteste Rede mit dem legendären Satzanfang "I have a dream...".

© Foto: afp Historischer Auftritt: Martin Luther King winkt am 28. August 1963 seinen Anhängern auf der Mall in Washington zu. Dort hielt er seine wohl berühmteste Rede mit dem legendären Satzanfang "I have a dream...".

Also war er doch im einfachen Lorraine Motel abgestiegen. Dem Vorwurf, er würde im schicken Hotel eines Weißen übernachten, wollte sich Martin Luther King nicht aussetzen. Es gab ja schon genug Gerede: dass er, der Schwarzenaktivist, stets nur in den elegantesten Anzügen auftrat, in den besten Restaurants speiste.

In dem Motel in Memphis bespricht King mit seinem Bruder die Predigt für einen Gottesdienst, später sind sie zum Essen eingeladen. Während des Ankleidens tritt Martin Luther King auf den Balkon, unten wartet ein befreundeter Saxofonist des Orchesters der Bürgerrechtsorganisation SCLC (Southern Christian Leadership Conference), der King vorsteht. Der Musiker soll an diesem Abend spielen. Den Gospelsong "Take My Hand, Precious Lord" würde er gern hören, sagt King vom Balkon aus.

Martin Luther King wird den Song nicht mehr hören. Um 18.01 Uhr fällt ein Schuss. Die Kugel trifft ihn im Gesicht. King, damals 39 Jahre alt, bricht auf dem Balkon zusammen. Er wird ins Krankenhaus gebracht, die Ärzte kämpfen um sein Leben - vergeblich. Amerikas Bürgerrechtsikone ist tot. Es ist der 4. April 1968.

Jahrzehntelange Aufklärung

Ein Jahr später verurteilt ein Gericht James Earl Ray, einen Kleinkriminellen und Rassisten, für den Mord zu 99 Jahren Gefängnis. Dass er ganz allein zuschlug, dass es keine Hintermänner gab, mag schon damals kaum einer glauben. Doch erst drei Jahrzehnte und mehrere Untersuchungskommissionen später wird ein Mitverschwörer schuldig gesprochen.

Mit wem genau er sich verschworen hat, ist bis heute unklar. David Garrow, Autor der King-Biografie "Bearing the cross", ist bis heute überzeugt: King wurde Opfer eines Komplotts, an dem Mafia, Militär und die Bundespolizei FBI beteiligt waren.

Martin Luther King: Ein Mann, der für einen Traum starb

© Foto: Joe Raedle/afp

Tatsächlich gibt es in den 60er Jahren kaum jemanden, der King so sehr verabscheut wie der legendäre FBI-Chef J. Edgar Hoover. Der glühende Antikommunist sieht in dem Bürgerrechtler einen Demagogen, der den sozialistischen Umsturz betreibt – in der Tat ruft King in seinen letzten Jahren zur Auflehnung gegen ein perverses System aus Klassentrennung, Rassenwahn, Militarismus und Profitstreben auf. Hoover startet Schmutzkampagnen, um King in Verruf zu bringen. Ob in seiner Behörde noch düsterere Pläne geschmiedet werden, darüber wird man frühestens 2027 mehr erfahren. Dann werden Hunderttausende Seiten einer Untersuchungskommission öffentlich zugänglich gemacht.

Als Martin Luther King 1929 in Atlanta, im tiefen Süden der USA, zur Welt kommt, ist der Amerikanische Bürgerkrieg, der den Sklaven die Freiheit brachte, Jahrzehnte vorbei. Von echter Emanzipation können Afroamerikaner aber nur träumen. Die Schulen sind nach Hautfarben getrennt, in Bussen gibt es eigene Bereiche für Schwarze und Weiße. "Separate, but equal", "getrennt, aber gleich", seien Weiße und Schwarze, rechtfertigt der Oberste Gerichtshof diese Alltagsdiskriminierung.

Deutscher Namensvetter

Martin Luther King wächst in guten Verhältnissen auf, die Familie ist angesehen in Atlanta. Schon sein Vater ist Baptisten-Prediger und setzt sich für die Rechte der Schwarzen ein. Weil er den Reformator Martin Luther bewundert, ändert er nach einem Deutschland-Besuch seinen eigenen Vornamen und den seines Sohnes von Michael auf Martin ab und fügt ihnen das "Luther" hinzu.

Am Morehouse College in Atlanta, dem "Harvard der Schwarzen", fällt dem jungen Martin Luther King eines Tages ein Essay des Naturdichters Henry David Thoreau in die Hände, Titel: "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat". Thoreau hatte sich 1846 geweigert, eine Steuer zu zahlen, solange die Bundesregierung die Sklaverei aufrechterhalte.

Einflüsse aus Indien

1948 wird King wie sein Vater zum Pastor geweiht, anschließend zieht es ihn für ein Theologiestudium in den Norden. In Pennsylvania kommt er mit den Schriften einer weiteren Figur in Berührung, die ihn prägen sollte: Mahatma Gandhi. In dessen Verständnis von Widerstand, von "Liebe und Gewaltlosigkeit", schreibt die Historikerin Claudia Mocek in einem neu erschienenen Buch über Martin Luther King, findet der junge Student "den Weg zu sozialen Reformen, nach dem er gesucht hat".

Seine erste Pfarrstelle übernimmt King in Montgomery, Alabama. Er kann nicht ahnen, dass über dieses Montgomery bald das ganze Land sprechen wird: 1955, ein Jahr nach Kings Ankunft, weigert sich eine Frau namens Rosa Parks, im Bus ihren Platz für einen Weißen freizumachen. Es ist die Initialzündung für die Bürgerrechtsbewegung, deren berühmtestes Gesicht bald King sein würde. Als ein Vorsitzender für den Ausschuss, der einen Nahverkehrsstreik der Schwarzen organisieren soll, gesucht wird, fällt die Wahl schnell auf den redegewandten und charismatischen Prediger. King zögert, dann willigt er ein.

Marsch zur Weltikone

Hier beginnt der lange Weg Martin Luther Kings vom Südstaaten-Pastor zur weltweit bekannten Bürgerrechtsikone. Ein Weg, den ihm sein Redetalent ebnet, das er im anbrechenden Fernsehzeitalter aber auch geschickt zu inszenieren weiß. King gibt den Fernsehteams, was sie wollen - und das sind nicht nur politische Inhalte, sondern auch Einblicke ins Familienleben des vierfachen Vaters.

Der Protest gegen die Rassentrennung äußert sich auf viele Weise - in brutalen Ausschreitungen ebenso wie in den friedlichen Sit-ins. Diese Sitzstreiks nehmen ihre Ausgangspunkt 1960 in Greensboro, North Carolina: Vier schwarze Studenten bestellen in einem Lokal Kaffee, werden aber nicht bedient, weil das Restaurant Weißen vorbehalten ist. Doch sie bleiben, stundenlang. Am nächsten Tagen kommen sie wieder. Immer mehr Menschen schließen sich ihnen an. Das Beispiel macht im ganzen Land Schule. Es ist ein gewaltloser Protest nach Kings Geschmack. Was oftmals übersehen wird:

King sprach oftmals auch über den Klassenkampf der armen Bevölkerungssichten und der damit einhergehenden, um sich greifenden Ungerechtigkeit. Eine Thema, was von den Medien und der Regierung aber regelmäßig ignoriert wurde.

Integrierter Kaffee

Eher Gegenspieler als Verbündeter: Malcolm X schritt oftmals auf radikaleren Wegen und predigte über die nötige Selbstverteidigung der Schwarzen.

Eher Gegenspieler als Verbündeter: Malcolm X schritt oftmals auf radikaleren Wegen und predigte über die nötige Selbstverteidigung der Schwarzen. © AFP

Aber nicht unbedingt nach dem Geschmack anderer Aktivisten. Schon gar nicht nach dem Geschmack von Malcolm X. Der Wortführer der Nation of Islam, nicht weniger charismatisch als King, hat für die Sitzstreiks nur Spott übrig: Eine "integrierte Tasse Kaffee" könne nicht für Jahrhunderte der Sklavenarbeit entschädigen. Malcom X sieht nur ein Mittel gegen die Unterdrückung: Gewalt.

Zuwider ist Malcolm X auch der Marsch auf Washington, den mehrere Organisationen, darunter Kings SCLC, 1963 organisieren. Um ja nicht zu sehr zu provozieren, lassen die Bürgerrechtler nur von ihnen selbst gestaltete Transparente zu; sogar ein Redetext wird entschärft. Malcolm X spricht von einem "Zirkus". Und doch wird dieser Zirkus eine der Wegmarken für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung werden.

Bekannte Rede, neue Wirkung

250.000 Menschen sind da, als Schlussredner Martin Luther King auftritt. Seine Rede ist Predigt und Prophezeiung zugleich. Geschickt verbindet er darin den amerikanischen Gründungsmythos mit der Diskriminierung der Gegenwart: Die Unabhängigkeitserklärung spricht von der Gleichheit aller Menschen, doch für Afroamerikaner sei dies ein uneingelöstes Versprechen, sagt King, ein Schuldschein, den man nun einzulösen gedenke.

Die Worte, die die Rede zur berühmtesten des Jahrhunderts machen sollten, will Martin Luther King an diesem Tag eigentlich gar nicht sagen - zu oft hat er sie schon verwendet, zu abgedroschen sind sie, warnt sein Berater. Doch als King auf dem Podium steht, ruft ihm Gospelsängerin Mahalia Jackson zu: "Erzähl ihnen von dem Traum!" Und King erzählt von seinem Traum.

Demokratischer Support

Ein Jahr später erhält Martin Luther King den Friedensnobelpreis. Zu diesem Zeitpunkt haben längst auch Politiker seine Nähe gesucht. Einer seiner frühesten Unterstützer: John F. Kennedy. Als King 1961 im Gefängnis sitzt - verhaftet wurde er mehrfach - setzt sich der junge Demokrat für ihn ein. Für Kennedy zahlt sich das politisch aus: Er wird zum Präsidenten gewählt, zwei Drittel der Afroamerikaner stimmen für ihn.

Kennedy ist es auch, der den Civil Rights Act auf den Weg bringt - die Bürgerrechtsgesetze, die die Diskriminierung der Schwarzen endlich verbieten. Ihr Inkrafttreten 1964 erlebt er nicht mehr: Kennedy wird in Texas erschossen.

Wahrlich kein Heiliger

Wie Kennedy ist Martin Luther King eine Ikone, wie Kennedy ist er aber eines sicher nicht: ein Heiliger. Seine Doktorarbeit schreibt er in Teilen ab, und anders als sein Vorbild Gandhi führt er kein asketisches Leben - er liebt schöne Kleidung und schöne Frauen, mit denen er seine Gattin Coretta betrügt.

Überhaupt, sein Frauenbild: Für King sind Frauen für Küche und Kindererziehung da. Was Biografin Mocek zur Frage bringt, wieso jemand, der sich so für die Gleichberechtigung von Schwarzen einsetzt, dies so wenig für die der Frauen tut.

Vor 50 Jahren stirbt King. Vieles deutet darauf hin, dass er, der Zeit seines Lebens mehrmals Ziel von Anschlägen war, seinen frühen Tod ahnt. Nur einen Tag vor seiner Ermordung hält er in Memphis eine Rede, die in der Rückschau wie eine Prophezeiung seines Todes wirkt, und doch eine Prophezeiung der Hoffnung ist.

Claudia Mocek: Martin Luther King. Reclam, 100 Seiten, 10 Euro.

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