NN-Talk: Die absurde Normalität des Hasses

9.8.2019, 11:19 Uhr
NN-Talk: Die absurde Normalität des Hasses

© Foto: Michael Matejka

Juden in Deutschland, ihre Gemeinden und ihre Vertreter müssen mit Bedrohung, Anfeindung und Beleidigung leben. Rabbiner werden auf der Straße angespuckt, Kippaträger angegriffen. Im Internet wird hemmungslos Hass auf Juden und auf Israel versprüht. "Das ist die absurde Normalität", sagt Arye Shalicar. Vor 18 Jahren hat der inzwischen 42-Jährige das Land, in dem er als Sohn emigrierter persischer Juden geboren und aufgewachsen war, den Rücken gekehrt. Er hatte das Gefühl: "Das ist nicht meine Heimat, nicht das Land, in dem ich meine Kinder erziehen möchte." Shalicar lebt seither in Israel.

Beim NN-Talk erzählt er von seiner Jugend im Berliner Wedding. Von seinem Versuch, als Straßengang-Mitglied von den im Kiez den Ton angebenden muslimischen Jugendlichen akzeptiert zu werden. Und von seinem Outing als Jude im zarten Alter von 14, das ihn nicht nur den besten Freund, einen muslimischen Inder, kostete, sondern handfeste Gewalterfahrungen eintrug.

Aus allen Richtungen

Shalicar warnt davor, das Thema Antisemitismus aktuell recht bequem "auf die Zuwanderer der letzten drei, vier Jahre abzuschieben". Er hat ihn in den 90er Jahren hierzulande erlebt, vor allem von Muslimen. Und er bekommt ihn heute zu spüren, wenn er sich im Netz zu jüdischen oder israelischen Themen äußert. Aus allen politischen Richtungen und aus allen gesellschaftlichen Schichten schlagen ihm dann Hasskommentare entgegen. Einige widerwärtige Beschimpfungen liest er aus seinem Buch ("Der neu-deutsche Antisemit") vor.

Die provokante These des Deutsch-Israeli: "Die wahren Antisemiten in Deutschland sind die Deutschen, weil sie aus ihrer Geschichte nichts gelernt haben."

NN-Chefredakteur Alexander Jungkunz, Shalicars Gesprächspartner an diesem Abend, erkundigt sich nach den Vorschlägen des in Israel zum Sprecher der Israelischen Armee und danach zum Abteilungsleiter im Außenministerium aufgestiegenen Auswanderers. Was konkret ist gegen Antisemitismus zu tun? "Was kann die Politik tun? Oder brauchen wir härtere Strafen?"

Shalicar hat kein einfaches Rezept zur Beendigung des leider uralten Problems. Er meint, es müsse sich "tiefgreifend gesellschaftlich etwas ändern". Und er sieht vor allem die Schulen und die Medien gefordert. Letzteren wirft er "jahrzehntelange teilweise verzerrte Berichterstattung über Israel vor".

Wie und wann, fragt ein Herr aus dem Publikum, dürfe man Israel kritisieren, "ohne dass es Antisemitismus ist"? Wo doch beispielsweise die Siedlungspolitik Israels ein klarer Verstoß gegen UN-Resolutionen sei. "Sie kommen wie bestellt", entgegnet Arye Shalicar. Er kann es nicht verstehen, dass sich in Deutschland zwar kaum jemand für den verheerenden Syrienkrieg, für die Unterstützung islamistischer Terroristen und der Hamas durch den Iran, für die Kurdenthematik, die gefährlichen Rivalitäten in der arabischen Welt, aber alle für den Umgang Israels mit den Palästinensern interessieren.

Deutschland, fordert Shalicar, müsse endlich einsehen, dass der Nahost-Konflikt längst in Syrien spiele, wo ein brutaler Krieg mittlerweile 500.000 Menschenleben gefordert hat. "Die Auseinandersetzung Juden gegen Araber ist allenfalls ein Nebenschauplatz." Aber in Deutschland pflege man hartnäckig die Zuspitzung auf dieses Thema.

Israelkritik ist für Shalicar die vorgeschobene Legitimation des neu-deutschen Antisemitismus. Was schon damit anfange, dass der Duden exklusiv den Begriff "israelkritisch", aber nicht Wörter wie russlandkritisch, irankritisch oder norwegenkritisch kenne. "Wenn es die gäbe, wäre alles in Ordnung."

Die Wunde der Shoa mit sechs Millionen von den Deutschen ermordeten Juden, räumt Shalicar ein, sei zunächst "gut behandelt worden – von beiden Seiten". Doch jetzt öffne sie sich wieder. "Wir müssen diese Wunde wieder behandeln."

Und eine Dame aus dem Publikum weiß, wer beim Kampf gegen Antisemitismus besonders gefordert ist. "Warum zeigen wir auf die Politiker? Wir müssen bei uns anfangen."

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