Stalingrad – der Anfang von Hitlers Ende

1.2.2018, 20:57 Uhr
Stalingrad – der Anfang von Hitlers Ende

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NZ: Herr Professor Stadelmann, die Schlacht um Stalingrad umgibt auch 75 Jahre nach ihrem Ende eine Art Mythos. Warum?

Matthias Stadelmann: Stalingrad steht für einen unglaublich harten, grausamen Kampf mit immensen Opferzahlen, insbesondere auf sowjetischer Seite. Für die Sowjetunion – und Russland heute – steht die Schlacht für den unbedingten Durchhalte- und Siegeswillen der sowjetischen Bevölkerung, für die auch moralisch überlegene Stärke der Roten Armee, für die Wende zum Besseren in diesem vernichtenden Krieg. Für die Wehrmacht war Stalingrad ein entscheidendes Signal, dass eine Niederlage an der Ostfront wahrscheinlich wurde. Die harten Häuserkämpfe, die hohen Opferzahlen und natürlich auch der Name der Stadt, die mit ihrem Bezug auf den sowjetischen Führer nicht irgendeine Stadt Russlands war, machten die Schlacht – neben ihrem Ausgang – zu etwas Besonderen in der Kriegsgeschichte.

NZ: War die Schlacht von Stalingrad tatsächlich der entscheidende Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg?

Stadelmann: Da gibt es unterschiedliche Ansichten, etwa die, dass schon die von Deutschland nicht gewonnene Schlacht um Moskau (Dezember 1941/Januar 1942) klarwerden ließ, dass der Krieg in Russland nicht zu gewinnen sei. Aber unabhängig davon hatte Stalingrad eine immens wichtige Bedeutung, nicht nur militärisch, durch den opferreichen Sieg der Roten Armee, sondern auch symbolisch. Nach Januar 1943 war klar, dass es eine reale Perspektive für die Sowjetunion gab, den Krieg gegen das Deutsche Reich auch alleine, aus eigener Kraft zu gewinnen. Dieser Umstand war nicht nur für die Sowjetunion wichtig, sondern wurde auch in London und Washington zur Kenntnis genommen.

NZ: Wäre der Krieg anders verlaufen, wenn die deutsche Wehrmacht der Sieger von Stalingrad gewesen wäre?

Stadelmann: Auch wenn Historiker sich mit "Was wäre wenn?" immer schwer tun: Nein, wohl kaum. Die Voraussetzungen für einen substanziell anderen Kriegsverlauf – und das kann ja nur heißen: einen deutschen Sieg – waren nicht gegeben. Sie waren es von Anfang an nicht.

NZ: Die gefangenen Deutschen in Stalingrad waren so erbärmlich ausgestattet – zerlumpt, schmutzig, ohne jeglichen Winterschutz – dass sogar manch feindlicher Soldat Mitleid hatte. Wie ist die katastrophale Ausrüstung zu erklären?

Das auf bisherige Erfolge in der Kriegsführung zurückgehende Konzept war auch für den Russlandfeldzug das des "Blitzkriegs". Man hatte beim Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 gar nicht damit gerechnet, im Winter noch großartig zu Werke gehen zu müssen.

NZ: Hätte eine bessere Ausstattung die Niederlage verhindern können?

Stadelmann: Das glaube ich kaum. Vielleicht hätte es länger gedauert. Die Kriegsniederlage hätte es sowieso nicht verhindert.

NZ: Hitler hatte gleichzeitig zur Offensive in Stalingrad auch die zu den Erdölgebieten im Kaukasus angeordnet. War das ein Kardinalfehler?

Stadelmann: Es war ein aus irrealer Selbstüberschätzung heraus geborener Fehler. An den strukturellen Gegebenheiten, die einen Krieg gegen die und in der Sowjetunion grundsätzlich schwer gewinnbar machten, änderte das freilich auch nichts.

NZ: Eines der schon in "Mein Kampf" formulierten Ziele Hitlers war es, für die "arische Rasse" im Osten Europas "Lebensraum" zu schaffen. Himmlers SS hatte großangelegte Umsiedlungspläne, die auf der Volkstumspolitik basierten, aber nie wie geplant umgesetzt wurden. Sollte der Ostfeldzug diese Pläne umsetzen und hat sie wegen des hohen Aufwands und mangelnden Erfolgs letztlich behindert?

Stadelmann: Natürlich, wenn man "Raum" braucht und nicht hat, muss man ihn erwerben. Polen schien da nicht groß genug beziehungsweise ja auch schon verhältnismäßig dicht besiedelt. Das sowjetische Land dagegen war weit. . . Der Kriegsverlauf ließ aber eine Umsetzung der Pläne kaum sinnvoll erscheinen, ab einem bestimmten Zeitpunkt, etwa ab "Stalingrad" gar als nicht machbar.

NZ: Oder war der Ostfeldzug dem bisherigen Kriegsverlauf geschuldet?

Stadelmann: Hitler hat schon früh keinen Zweifel daran gelassen, dass sein Wirken vornehmlich gegen (das bolschewistische) Russland gerichtet ist. In seinen Augen waren Bolschewismus und Judentum untrennbar miteinander verbunden. Es gibt also nichts Zufälliges oder Spontantes an dem "Unternehmen Barbarossa".

NZ: Manche Historiker vertreten bis heute die These, dass Hitler mit dem Angriff auf Polen und dem Feldzug gen Osten letztlich nur dem sowjetischen Diktator Stalin und dessen Strategie, das Deutsche Reich anzugreifen, zuvorkam. Wie sehen Sie das?

Stadelmann: Es gibt keine ernstzunehmenden Gründe, die diese "Präventivkriegsthese" rechtfertigen würden. Es war, je nach Vertreter der These, sensationsheischendes Ablenkungsmanöver oder hilfloser Rechtfertigungsversuch. Die These vom Präventivkrieg ist in der Geschichtswissenschaft widerlegt, auch wenn sie noch an manchem Stammtisch kursieren mag.

NZ: Im heutigen Deutschland ist die Schlacht um Stalingrad Gegenstand von TV-Dokumentationen zum Jahrestag, aber im öffentlichen Bewusstsein nur noch in der Kriegsgeneration verankert. Wie ist das in Russland?

Stadelmann: Dort spielt die Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad eine sehr bedeutsame Rolle. Man erinnert an die Opfer und Entbehrungen, an Kampfgeist und Siegeswillen, an die Wende zum Erfolg in diesem von Deutschland aufgezwungenen Krieg. Dies ordnet sich ein in eine grundsätzlich anders geartete Erinnerungspolitik im Hinblick auf den "Großen Vaterländischen Krieg", dessen siegreiches Ende jedes Jahr groß und pompös gefeiert wird. Auch jüngere Generationen halten Erinnerung und Gedenken wach.

NZ: Was können junge Leute in Deutschland und in Russland heute aus Stalingrad lernen?

Stadelmann: Ich will hier keine Gemeinplätze über die Sinnlosigkeit von Krieg und Vernichtung verbreiten. Das sollten wir längst kapiert haben. Man kann aber daraus lernen, dass man besser rechtzeitig miteinander zu reden beginnt anstatt aufeinander zu schießen. Das ist zwar auch ein Gemeinplatz, aber wenn man auf die heutige Situation in der Ukraine blickt, wiederholt man auch Selbstverständlichkeiten gerne.

NZ: Was können Politiker lernen?

Stadelmann: Die russische Art, sich an Stalingrad zu erinnern, sollte Politikern aus anderen Ländern nicht kalte Schauer über den Rücken jagen, sondern Denk- und Verstehensprozesse auslösen – nicht nur, dass und warum die Erinnerungskultur in Russland eine andere ist, sondern auch über berechtigte und vielleicht auch unberechtigte Sorgen, Nöte und Empfindlichkeiten.

NZ: Ein Nahost-Experte hat die "Schlacht" des IS um die kurdische Grenzstadt Kobane mit Stalingrad verglichen. Tragen Sie den Vergleich mit?

Stadelmann: Ich halte nichts von Vergleichen ohne Bezug und Aussagewert. Was soll damit gesagt werden? Dass Kobane eine Wende war? Dafür muss ich Stalingrad in seiner monströsen Individualität nicht bemühen, das kann ich auch ohne interesseheischenden Aufmacher zum Ausdruck bringen.

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