Therapie im Alleingang?

14.2.2004, 00:00 Uhr
Therapie im Alleingang?

© Wilhelm Bauer

Wenn nur alles im Leben so einfach zu erreichen wäre wie die oberste Sprosse dieser Kletterwand. Mit Feuereifer krabbelt die kleine Lisa (Name geändert) an einem Seil in die Höhe und rutscht jauchzend auf einer angelehnten Gymnastikmatte wieder zu Boden. Erst mal austoben, Energie ablassen, kleine Erfolge feiern, bevor Ergotherapeutin Refiye Pagel das Programm für das fünfjährige Mädchen, bei dem die Ärzte Entwicklungs- und Konzentrationsstörungen festgestellt haben, langsam anspruchsvoller gestaltet. Auf einem Holzbrett sollen farbige Murmeln verschoben werden, bis sich ein vorgegebenes Bild ergibt — ganz schön schwierig, wenn das, was die Augen sehen und was die Hände tun wollen, so gar nicht zueinander passen will.

Mit kniffeligen Denksportaufgaben ganz anderer Art, die dennoch große Auswirkungen auf Lisa und Millionen anderer Patienten haben können, müssen sich derzeit die so genannte Heilmittelerbringer auseinander setzen. Ergotherapeuten (die früheren Arbeits- und Beschäftigungstherapeuten), Physiotherapeuten (Krankengymnasten und Masseure), Logopäden (Stimm- und Sprachtherapeuten) und Fußpfleger befürchten nicht nur finanzielle Einbußen, sondern auch einen „therapeutischen Kahlschlag“ wenn am 1. April die neuen, vom Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen entworfenen Heilmittelrichtlinien in Kraft treten sollten.

Kernpunkt der Novelle: Die vor allem für chronisch Kranke und behinderte Menschen wichtigen Langfristverordnungen soll es nicht mehr geben. Stattdessen sollen die Patienten eine zwölfwöchige therapeutische Zwangspause einlegen müssen, sobald eine so genannte Gesamtverordnungsmenge erreicht ist. Dieses jetzt gesetzlich vorgeschriebene Behandlungsvolumen reicht zwar nach Erfahrung des Nürnberger Ergotherapeuten Erhard Beer für Durchschnittsfälle aus, missachte aber völlig den besonderen Bedarf chronisch Kranker und Behinderter, die ja auf lebenslange Betreuung angewiesen seien.

„Eine Katastrophe“

Bislang konnte der Arzt für Chroniker und Behinderte immer wieder neue Rezepte mit unterschiedlich vielen Behandlungseinheiten bei den Therapeuten ausstellen. Jetzt soll beispielsweise in der Ergotherapie je nach Erkrankung nach maximal 20 bis 60 Therapiestunden Schluss sein. Ein neues Rezept darf der Arzt im Regelfall erst nach drei Monaten Pause ausstellen — „eine Katastrophe“, schimpft die Bubenreuther Physiotherapeutin Margot Lechner.

„Die Operation eines hirngeschädigten Kindes war für die Katz, wenn danach nicht intensiv Krankengymnastik gemacht wird“, regt sich Lechner über die Praxisferne der Regelung auf. Vor allem in der kindlichen Entwicklung, aber auch bei der Versorgung von chronisch Kranken, gebe es für Behandlungserfolge bestimmte Zeitfenster, ergänzt die Nürnberger Logopädin Roswitha Gschwandtner. „Und wenn die versäumt werden, hat das fatale Konsequenzen.“

Während der Bundesausschuss davon ausgeht, dass sich die Patienten während der zwölfwöchigen Zwangspause mit den in der Therapie erlernten Techniken quasi selbst behandeln können, haben die Therapeuten Angst davor, dass die Fortschritte durch die Unterbrechung wieder zunichte gemacht werden. „Wir haben bei uns in der Praxis einen Schlaganfall-Patienten, der in sieben Wochen mühsam wieder das Schreiben gelernt hat“, berichtet die Nürnberger Ergotherapeutin Mirian Mielke.

Was passieren würde, wenn er jetzt für zwölf Wochen auf die fachliche Anleitung verzichten müsste, malt sie sich lieber nicht aus. „Große Fortschritte wird er aber wahrscheinlich nicht machen.“ Eine fachliche Begründung für die Zwangspause sucht man in den Unterlagen zu den neuen Heilmittelrichtlinien tatsächlich vergeblich.

Flexiblere Ärzte?

Einziges Argument für die Neuordnung, das in einem Schreiben des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen genannt wird, das auch unserer Redaktion vorliegt, ist die Kostenreduzierung. Immerhin sei der Arzt nun flexibler, wenn er bestimmte Behandlungsformen erst einmal ausprobieren wolle, erklärt Gerold Holm von der bayerischen Landesvertretung der Techniker Krankenkasse. „Zudem bedeutet die Neuregelung nicht, dass es in der therapiefreien Zeit keine Behandlungen gibt“, erklärt Holm weiter ,„der Arzt muss die Ausnahme nur begründen.“

Dass es viele aufwändig begründete Ausnahmen für sozial schwache Menschen geben wird, wagt Mirian Mielke, die in ihrer Gostenhofer Praxis viel mit Ausländern zusammenarbeitet, allerdings jetzt schon zu bezweifeln: „Das bringt nur etwas für die, die wissen, wie man sich bei Arzt und Krankenkasse durchsetzt.“