Treffer mit Spätfolgen: Nervenkrankheit beschäftigt den Sport

3.8.2020, 05:55 Uhr
Aneinanderkrachende Köpfe? Im Fußball keine Seltenheit.

© Antonio Calanni Aneinanderkrachende Köpfe? Im Fußball keine Seltenheit.

Erich Grau sitzt Mitte März in einem Ansbacher Café und versteht die Welt nicht mehr. Die ganze Corona-Aufregung ringsum schlägt ihm ziemlich aufs Gemüt, trotzdem scheint er durchaus einverstanden zu sein mit seinem Leben. In dem sich seit einigen Jahren merkwürdige Situationen häufen.

Mindestens einmal am Tag, erzählt der 65-Jährige, sinkt er zuhause in sich zusammen und auf den Boden, weil er sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Beim Einkaufen ist er mitunter nicht mehr in der Lage, die zum Bezahlen nötigen Scheine und Münzen zusammenzuzählen. Und so weiter. "Alltagsprobleme", sagt Erich Grau.

Treffer mit Spätfolgen: Nervenkrankheit beschäftigt den Sport

In seinem Beruf als Gymnasiallehrer unterlaufen ihm zu Beginn des Jahrtausends seltsame, weil ungewohnte Fehler, selbst im normalen Unterrichtsgespräch. Von Monat zu Monat fällt es ihm schwerer, sich zu konzentrieren, zunächst begibt er sich in ärztliche Behandlung, ohne Erfolg. Wirklich helfen können ihm letztlich erst seine regelmäßigen Besuche in der so genannten Gedächtnissprechstunde.

Der Verdacht, dass er der erste CTE-Fall in Deutschland sein könnte, "kam sehr, sehr spät", sagt Erich Grau, so gegen 2015 muss das gewesen sein. Es gibt Bilder von ihm im Nationaltrikot, aus den 80er Jahren, als er sich Deutschlands bester Quarterback nennen durfte. Erich Grau gilt hierzulande als einer der Pioniere des American Football, mit den Ansbach Grizzlies zählt er über viele Jahre zur nationalen Spitze.

Kopfballtraining wird vermieden

An eine Gehirnerschütterung, sagt Erich Grau, könne er sich trotzdem nicht erinnern. Wie an so vieles nicht, was früher einmal war. Vor knapp drei Jahren veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen längeren Artikel über ihn – Überschrift: "Die Football-Krankheit erreicht Deutschland."

Die Football-Krankheit, wie CTE (Chronische Traumatische Enzephalopathie) auch genannt wird, betrifft hauptsächlich das Gehirn und kann Auslöser für klassische Demenz-Symptome wie Gleichgewichtsstörungen oder Gedächtnisverlust bis hin zu charakterlichen Veränderungen und Paranoia sein. Wenn der Kopf wiederholt Schläge oder Stöße aushalten muss, auch sanfte, kann im Gehirn ein Protein namens Tau entstehen und Klumpen bilden, die wiederum Zellen abtöten. Seit 2016, sagt Erich Grau, ist bei ihm "alles so verzögert, so hinten nach".

Leichte und schwere Gehirnerschütterungen zählen auch bei Fußballern zum ständigen Berufs- oder Hobbyrisiko, mit schlimmstenfalls verheerenden Spätfolgen. Der englische Fußball-Verband (FA) hat deshalb Ende Februar Kopfballübungen für Kinder im Grundschulalter abgeschafft, ab der U12 sollen Kopfbälle ebenfalls vermieden, bei der U18 "soweit wie möglich" reduziert werden. Entsprechende Regelungen, offiziell als Vorsichtsmaßnahmen deklariert, gelten allerdings nicht für Spiele.

DFB-Arzt hegt Zweifel

Die FA und die Spielergewerkschaft PFA wollten es aber ganz genau wissen und gaben eine empirische Untersuchung in Auftrag. Mit dem Ergebnis, "dass Fußballprofis im Vergleich zur britischen Gesamtbevölkerung mit einer 3,5 Mal höheren Wahrscheinlichkeit an einer degenerativen Hirnkrankheit sterben". Das Risiko, an Demenz zu erkranken, sei bei Fußballern 3,45 Mal höher – das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, sogar 4,4 Mal.

Weil die Studie aber keinen kausalen Zusammenhang mit möglichen Ursachen herstellen konnte, wird seitdem viel und oft darüber spekuliert, was von derlei Erhebungen zu halten sei. Der Deutsche Fußball-Bund in Person von Prof. Tim Meyer, Arzt der Nationalmannschaft und Vorsitzender der Medizinischen Verbands-Kommission, winkt zum Beispiel ab.

"Sicherlich muss man die Ergebnisse ernst nehmen, aber mir scheint auch an manchen Orten eine Überinterpretation stattzufinden", sagt Meyer in einem Interview auf der DFB-Webseite, weil andere Einflüsse, "etwa der Konsum von Alkohol oder anderen schädigenden Substanzen", außer Acht gelassen würde. "Ich halte die wissenschaftliche Grundlage derzeit für zu dünn", sagt Meyer, "um daraus angesichts der ohnehin wenigen Kopfbälle im Kinderfußball ein Verbot abzuleiten. Hier fehlt mir einfach das Augenmaß."

Studie zeigt Auffälligkeiten

Etwas mehr Mut und Entschlossenheit zum Schutz der Aktiven wäre dennoch keine schlechte Idee; Erich Grau und viele andere warnen vor einem fahrlässigen Umgang mit der Nervenkrankheit, obwohl sich CTE erst post mortem nachweisen lässt. Hierzulande scheint sich der Forschungsaufwand selbst zu Lebzeiten nicht zu rentieren, in den USA ist man da mindestens einen Schritt weiter; an der Boston University etwa geht ein eigener CTE-Center den langfristigen Folgen von Hirntraumata sowie Therapie- und Behandlungsoptionen nach. Auch in einer auf sieben Jahre angelegten Studie mittendrin: Prof. Inga Koerte, eine Neuroradiologin von der LMU München.

Untersucht werden 240 Männer im Alter zwischen 45 und 74 Jahren, darunter 120 Ex-Profis aus der National Football League (NFL) und 60 ehemalige College-Footballer, die Kontrollgruppe umfasst 60 gesunde Personen. Alle drei Jahre werden die Probanden auf Herz und Nieren und natürlich Kopf getestet.

Was sich bereits sagen lässt: Es gibt gravierende Unterschiede, vor allem deutliche Verhaltensauffälligkeiten früherer Footballer. Bereits 2017 hatte die Boston University mit einer anderen Arbeit aufhorchen lassen, als sie 111 Gehirne verstorbener Footballer seziert hatte – in 110 fanden sich Spuren von CTE.

Diagnose nicht ohne Obduktion

Erich Grau, der zwar nicht weiß, ob er unter CTE leidet, aber eben unter etlichen Symptomen der seit den 1920-er Jahren auch als Boxer-Demenz bekannten Nervenkrankheit, möchte Sportler und Mediziner sensibilisieren und, falls nötig, sogar als abschreckendes Beispiel dienen. Weil er sich zu seiner aktiven Zeit zwischen 1979 und 1990 kaum mit möglichen Risiken und Nebenwirkungen seiner Kontaktsportart beschäftigt hat.

Nach eigenem Empfinden hatte Erich Grau "nie Kopfweh, nie eine Gehirnerschütterung", wie er in dem Ansbacher Café erzählt, und genau das macht CTE so gefährlich. Obwohl er unzählige Hits hatte einstecken müssen, darunter viele Kopftreffer. Helm auf Helm, der früher nicht wirklich Schutz bot.

Wohl auch deswegen erreichten ihn in letzter Zeit immer wieder traurige Nachrichten von ehemaligen Football-Weggefährten, auch aus anderen Vereinen. Die CTE-Vermutung liegt nahe, lässt sich ohne Obduktion aber nicht beweisen. Entscheidend ist letztlich die Anzahl der Beschleunigungen, denen die Hirnmasse ausgesetzt ist.

40.000 Gehirnerschütterungen bei Sportunfällen pro Jahr

Ein Berufsfußballer wie Ex-Nationalspieler Christoph Kramer kommt da im Verlauf seiner Karriere locker auf einige Hundert, wenn nicht gar einige Tausend. Um die Welt gingen die Bilder von seinem Knock-out im WM-Finale 2014, nachdem ihm der Argentinier Ezequiel Garay mit voller Wucht und wohl auch mit voller Absicht die Schulter gegen seinen Schädel gerammt hatte. Der Mönchengladbacher taumelte noch ein paar Minuten sichtlich benommen über das Feld, ehe ihm der italienische Schiedsrichter und nicht etwa ein Arzt riet, sich schleunigst auswechseln zu lassen.

In der NFL wird bei Wirkungstreffern und Verdacht auf Gehirnerschütterung in wenigen Sekunden neben dem Feld ein Zelt hochgezogen, wo ein so genannter Concussion Protocol erstellt wird; wer durchfällt, also das Bewusstsein verliert oder nicht mehr weiß, wie er heißt, muss in die Kabine und bis zu seinem Comeback erst diverse Tests bestehen.

Dass die Folgen wichtig sind und nicht die Ursachen, hat Methode; der Unfallchirurg Axel Gänsslen brachte kürzlich eine App auf den Markt, anhand derer selbst Laien in höchstens drei Minuten eine Gehirnerschütterung erkennen können sollen. Nur bei Sportunfällen, schätzt der Mannschaftsarzt des Wolfsburger DEL-Eishockeyteams, passiere in Deutschland pro Jahr rund 40.000 Mal eine Gehirnschütterung, die Dunkelziffer liegt deutlich darüber.

Der Fußball zögert

Alarmierende Statistiken, findet Erich Grau, der nur aufklären kann, teils im großen Stil. Für die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. hat er ein Informationsblatt zur CTE verfasst, fühlt sich mitunter aber nicht wirklich ernst genommen. Die Deutsche Fußball-Liga hat zwar vor der vergangenen Saison bei jedem Spieler der ersten und zweiten Bundesliga im Rahmen der obligatorischen Tauglichkeitsprüfung erstmals ein Baseline Screening durchführen lassen, um Daten im Normalzustand gewinnen zu können. Aber nur, weil "akute Kopfverletzungen" eine Gefahr seien, "dafür werden Klubs und Ärzte regelmäßig sensibilisiert".

Dass auch die nicht-akuten kumuliert eine Gesundheitsbedrohung darstellen können, weiß Erich Grau aus eigener, schmerzhafter Erfahrung; nachgewiesen ist bei ihm eine hippocampale Atrophie, eines der zentralen Erkennungsmerkmale der Alzheimer-Krankheit. Wenn Hirnregionen langsam absterben, ist die schönste Zeit des Lebens häufig vorbei.

Oder auch nicht. Erich Grau trainiert und betreut beim TSV Ansbach junge Leichtathleten, sofern es die Temperaturen zulassen. Bei über 28 Grad liegt der früher leidenschaftliche Surfer aber auch schon mal mit Eisbeuteln im kühlen Keller. 

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