Türken sind vom Rückkehrer-Virus infiziert

10.6.2008, 00:00 Uhr
Türken sind vom Rückkehrer-Virus infiziert

© Michael Kasperowitsch

Das hartnäckige Virus trägt Sema Bilgin schon seit ihrer Kindheit in sich. Ihre Eltern nährten den Erreger während der Jahrzehnte ihres Lebens in Deutschland. Am Ende hat dieses Virus die 32-jährige Architektin derart geplagt, dass sie zu einem scharfen Mittel griff. Gegen dieses nagende Gefühl, nicht genau zu wissen, bin ich nun Türkin oder Deutsche, gegen dieses starke Verlangen, mehr über die eigenen Wurzeln zu wissen, half am Ende nur noch die Rückkehr nach Istanbul. Dort lebt Sema Bilgin heute.

Selbst-Therapie mit Komplikationen

Sie fühlt sich wohler, seit sie den einschneidenden Schritt getan hat. Allerdings verlief die Selbst-Therapie, die sie begann, als sie nach dem Studium mit Ende 20 eine erste Bilanz ihres Lebens zog, bei weitem nicht ohne Komplikationen. Sema Bilgins Eltern kamen mit der frühen Gastarbeiter-Generation Ende der 60er Jahre nach Berlin. Dort wurde 1975 Sema geboren. Wenn sie am Istanbuler Taksim-Platz über ihre Kindheit spricht, erinnert sie sich vor allem an ein Leben im Aufschub, eine vertröstete Kinder- und Jugendzeit: «Wenn ich ein Fahrrad haben wollte, hieß es: Warte, bis wir wieder in der Türkei sind. Ein eigenes Zimmer? Warte, das bekommst du später in der Heimat.«

Für die Eltern war immer klar, dass sie bald wieder in die Türkei zurückkehren. Jahrzehnte lang war das so. 1980 stand der Entschluss ziemlich fest, in diesem Jahr putschte dann das Militär, und die Lage war dort zu unsicher. Später musste der Vater weiter sein Geld in Deutschland verdienen, um die Schulden für das eigene Haus abzubezahlen. Es stand in der Türkei, nicht in Berlin. Dann sollte die kleinere Schwester noch die Schule fertig machen. So verging Jahr um Jahr im Wartestand.

Geschämt für schlechtes Türkisch

«Irgendwann war das Thema Rückkehr dann in der Familie auch stillgelegt.« Sie aber stellte sich Fragen: Wieso lebe ich als Türkin eigentlich in Deutschland? Warum erwartet man von uns ständig Integration, obwohl wir hier geboren sind? Andererseits schämte sie sich während der Besuche in der Türkei für ihr schlechtes Türkisch. Sie hatte dort das Gefühl, dass die Menschen hinter ihrem Rücken tuscheln.

Jahrelang hat sich Sema Bilgin in dieser Berliner Zwitter-Existenz «durchgeboxt«. Sie benutzt dieses Wort nicht beiläufig, sondern so, als habe sie dieses Leben enorm viel Kraft gekostet. Vor fünf Jahren hat sie ihr Fachhochschul-Diplom als Architektin bekommen. Sie fand in Berlin immer wieder Jobs, auch wenn es nicht die reizvollsten waren. Vor eineinhalb Jahren entschloss sie sich dann zur Rückkehr. «Ich wollte eine richtige 08/15-Türkin sein und endlich nicht mehr Angehörige einer Minderheit in Deutschland.« Mit ihrer Qualifikation war es leicht, in Istanbul eine gute Stelle zu finden. Eine «normale Türkin« unter Türken ist sie dennoch nicht geworden.

Keine Türkin so wie alle anderen

«Egal wie perfekt ich türkisch gelernt habe, und egal wie türkisch ich aussehe, ich bin hier keine Türkin so wie alle anderen,« stellt die junge Frau fest. Sie kehrte aus dem Deutschland, in dem sie sich auch nie ganz heimisch fühlte, in eine andere Fremde zurück. Sie spürte das in der türkischen Metropole zum Bespiel am Verhalten der Kellner, die sie leicht abfällig behandeln, weil sie wissen, dass damals vor allem weniger gebildete Türken nach Deutschland gingen.

Noch etwas ganz anderes ließ Sema Bilgin keine Ruhe: «Mir fehlte in Istanbul ein wichtiger Teil von mir selbst, der deutsche, ich habe es vermisst, deutsch zu reden.« Dazu hat sie jetzt ausgiebig Gelegenheit. Vor einem halben Jahr stieß sie auf den Rückkehrer-Stammtisch. Das hört sich nach einer überschaubaren Runde an. In zwei Jahren ist aber aus der anfänglichen «Schnapsidee«, so Mitbegründerin Lamia Ögütmen, eine Art kulturelles Überlebensprojekt mit rund 700 Mitgliedern geworden.

Gewöhnungsbedürftige Tradition

Die Architektin hat heute verstanden, dass sie hier wie dort zu einer Minderheit gehört. «Eine solche Geschichte lässt sich nicht mehr rückgängig machen.« Gurbetçi werden in Istanbul die Türken in Deutschland genannt, die eine tiefe Sehnsucht nach ihrer Heimat haben. «Ich bin immer noch ein Gurbetçi, jetzt aber im eigenen Land.« Sema Bilgin hat mit diese Situation ihren Frieden gemacht. Für das Leben mit türkischen Traditionen, die ihr allzu gewöhnungsbedürftig erscheinen, hat sie eigene Strategien entwickelt.

Dazu gehört auch der Brauch, am Todestag des Republikgründers Atatürk innezuhalten. Da steht das Leben in Istanbul für kurze Zeit still. Viele Menschen salutieren. «Als ich das zum ersten Mal erlebte, dachte ich: Was ist los,« sagt Bilgin, «jetzt weiß ich, was das bedeutet, und bleibe an diesem Tag etwas länger zu Hause ehe ich zur Arbeit gehe.« Diese Zeichen nationalen Stolzes sind ihr zu fremd.