Wagenknechts Abschied auf Raten: Freie Radikale der Linken

12.11.2019, 17:11 Uhr
Wagenknechts Abschied auf Raten: Freie Radikale der Linken

© Foto: Martin Schutt/dpa

Begegnungen mit Sahra Wagenknecht sind nichts für Menschen, die schon immer mal eine Rückenschule besuchen wollten, bisher aber leider nie dazu gekommen sind. Wer der 50-Jährigen gegenübersitzt, dem fällt als Erstes ihre kerzengerade Haltung auf, die sich auch nach einem halbstündigen Gespräch nahezu nicht verändert und jeden Bequemsitzer beschämt.

Wagenknechts Abschied auf Raten: Freie Radikale der Linken

© Foto: Jochen Lübke/dpa

Ein Herumlümmeln ist bei ihr schlichtweg nicht vorstellbar. In jeder Hinsicht. Sie zählt zu den wenigen Menschen im politischen Berlin, bei denen sich stets alles in perfekter Ordnung befindet: die Sprache, die Frisur, das Kostüm. Karl-Theodor zu Guttenberg, mit dem sie sonst herzlich wenig gemein hatte, war auch so einer. Selbst nach mehrstündiger Fraktionssitzung wirkte er wie frisch dem Abgeordnetenhandbuch entstiegen.

Mit ziemlicher Sicherheit wird Sahra Wagenknecht auch heute so auftreten, an ihrem letzten Arbeitstag als (Co-)Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Einen Blick hinter die Kulissen lässt sie nicht zu. Deswegen war es auch für viele eine große Überraschung, als zu Beginn des Jahres bekanntwurde, dass sie wegen Erschöpfungszuständen für zwei Monate krankgeschrieben worden war. Und dass sie nun auf einen der wichtigsten Posten, die ihre Partei zu bieten hat, verzichten wird.

Im Streit aufgerieben

Sie hatte sich "irgendwann aufgerieben" in dem innerparteilichen Streit, wie sie später selber zugab. Mit ihrer eigenen Parteispitze, Katja Kipping und Bernd Riexinger, war sie komplett verkracht. Und in der Fraktion nahm man ihr vieles übel – vor allem die Äußerungen zur Flüchtlingspolitik. Anfang 2016 stellte sie fest, es gebe "Grenzen der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung". Und als ihr vorgehalten wurde, das sei nun alles andere als die Position der Linken, da bemerkte sie in eher schnippischem Ton: "Das festzustellen ist weder links noch rechts, sondern eine Banalität."

Netzwerken vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, den Parteifreunden aller Richtungen nach dem Munde reden, um es sich mit keinem zu verderben – so denkt Sahra Wagenknecht nicht. Eine Eigenschaft, die sie mit ihrem 26 Jahre älteren Ehemann Oskar Lafontaine verbindet. Beide verstanden es, in einer Mischung aus politischer Genialität und Herablassung ihre Umgebung mal zu begeistern, mal vor den Kopf zu stoßen. Lafontaine gestand übrigens bei Markus Lanz, er habe seiner Frau zu Beginn des Jahres dringend geraten, angesichts ihrer gesundheitlichen Probleme kürzerzutreten.

"aufstehen" hatte kaum politischen Einfluss

Leicht hat es die promovierte Philosophin und Literaturwissenschaftlerin ihrem Umfeld nie gemacht. In der DDR, wo sie aufwuchs, vermisste das Regime bei ihr die Aufgeschlossenheit für das Kollektiv und ließ sie nicht studieren. Und was machte sie, als dieses System wankte und schließlich stürzte? Das im Grunde Unglaubliche: Sie trat der Herrschafts- und Unrechtspartei SED bei, um einen anderen, besseren Sozialismus zu verwirklichen.

Von außen gesehen passt vieles nicht zusammen, was sich im Wagenknecht’schen Kosmos auf wunderbarste Weise vereint. So hätte sich wohl kaum ein anderer Fraktionschef im Bundestag getraut, quasi nebenbei eine überparteiliche Sammlungsbewegung zu gründen. Bei ihr war es "aufstehen", das die linken Kräfte in Deutschland außerparlamentarisch bündeln sollte. Sie fand auch etliche gar nicht so unbekannte Mistreiter(innen). Einen nennenswerten Einfluss erreichte "aufstehen" in den 15 Monaten seit der Gründung trotzdem nicht.

Wagenknecht wird Macht verlieren

In der Linkspartei waren aber viele höchst beunruhigt. Wollte sich da eine, die sowieso für ihr Einzelgängertum bekannt war, rechtzeitig ihre eigenen Parteistrukturen zurechtbasteln? Es war wie so oft bei Sahra Wagenknecht. Die einen lobten ihre Absicht, die kaum handlungsfähige Linke endlich wieder ins Gespräch zu bringen. Die anderen sahen ein rücksichtsloses Ego-Projekt darin.

Innerhalb der Linken wird Wagenknecht ohne den Fraktionsposten erst einmal rein formal an Macht und Einfluss verlieren. Doch ihre Gegner sollten sich nicht täuschen. Die 50-Jährige muss künftig keine Rücksicht mehr nehmen auf interne Unstimmigkeiten und Vorstandswahlen. Ohne "den ständigen Druck", verriet sie, könne sie "politisch wahrscheinlich mehr bewegen".

Man darf sich gefasst machen auf einen sehr gefragten, ungeniert seine Meinung äußernden Talkshowgast im Fernsehen. Über Einladungen zu solchen Sendungen entscheide ja nun mal nicht die Partei, sagte sie. Und spätestens da dürfte manchen klar geworden sein, dass ein gemütlich schwäbelnder Linken-Chef Riexinger und seine Co-Vorsitzende Kipping künftig um ihren Stammplatz bei Maischberger, Will, Lanz und Plasberg zittern müssen.

Die ideale Position

Im Grunde könnte es die für sie ideale Position sein: freischwebend die Bundespolitik aufzumischen, ohne in Berlin ständig die Befindlichkeiten der Fraktion im Auge haben zu müssen. Sie wird auch ohne jedes Amt eine der vier Persönlichkeiten bleiben, die es in der Linkspartei zur Marke gebracht haben: Gregor Gysi (ebenfalls Libero), Oskar Lafontaine (im Ruhestand) und Bodo Ramelow (Regierungschef in Thüringen).

Ihr höchstes, wenn auch nur halboffizielles Amt hatte Sahra Wagenknecht von 2015 bis 2017 inne. Damals war sie als Fraktionsvorsitzende Oppositionsführerin im Bundestag, durfte im Wechsel mit ihren Kollegen Dietmar Bartsch die Politik der GroKo geißeln. Es muss besonders schmerzhaft für sie sein, dass inzwischen Alice Weidel von der AfD als (Co-)Chefin der größten Fraktion diese Rolle übernommen hat.

Noch ist nicht klar, wer Sahra Wagenknecht heute bei den Linken folgen wird. Es bewerben sich zwei Frauen: die Rechtsanwältin Amira Mohamend Ali (39) aus Niedersachsen und die im Westen geborene, aber in Sachsen lebende Soziologin Caren Lay (46). Beide haben versprochen, für mehr Frieden in der Fraktion zu sorgen. Das könnte ihnen gelingen, denn Friedensstiftung war eindeutig nicht der Tätigkeitsschwerpunkt von Sahra Wagenknecht.

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