Kim Phúc ist heute 59

Berühmtes Foto des Vietnamkriegs: Das ist die Geschichte des "Napalm-Mädchens"

8.6.2022, 06:00 Uhr
Die neunjährige Kim Phuc Phan Thi (Mitte) flieht nackt mit ihren Brüdern und Cousins vor einem Napalm-Angriff.

© Nick Ut/AP/dpa Die neunjährige Kim Phuc Phan Thi (Mitte) flieht nackt mit ihren Brüdern und Cousins vor einem Napalm-Angriff.

Es ist ein Foto, das wohl niemand, der es gesehen hat, wieder vergessen kann: Ein schreiendes neunjähriges Mädchen rennt nackt, mit ausgebreiteten Armen und schmerzverzerrtem Gesicht entlang einer Straße in Vietnam, direkt auf die Linse einer Kamera zu.

Phan Thi Kim Phúcs Körper ist verbrannt von Napalm. Die klebrige Flüssigkeit, ein grausames Gemisch aus Benzin, Ölen und Säuren hat fast 50 Prozent ihrer Haut zerstört.

Als das Foto aus dem Vietnamkrieg am 8. Juni 1972 aufgenommen und wenig später in Zeitungen auf der ganzen Welt gedruckt wird, erlangt die kleine Kim Phúc weltweit traurige Berühmtheit. Das Bild, das ihr unvorstellbares Leiden dokumentiert, wird zu einer Anklage gegen den Horror eines sinnlosen Krieges.

Brutale Absurdität eines Krieges

Kim Phuc Phan Thi 2019 bei einer Friedenspreisverleihung in Dresden. Sie lebt heute in Kanada.  

Kim Phuc Phan Thi 2019 bei einer Friedenspreisverleihung in Dresden. Sie lebt heute in Kanada.   © Sebastian Kahnert/dpa

Was genau an diesem verhängnisvollen Junitag 1972 in Kims Heimatort Trang Bang, 30 Kilometer nördlich von Saigon passierte, blieb lange unklar: Unterstützt von den Amerikanern begann die südvietnamesische Armee eine Großoffensive gegen den Vietcong. Vietcong-Truppen hatten im Gemüsegarten von Kims Vater Maschinengewehrstellungen errichtet. Gegen 16 Uhr werfen die Südvietnamesen Napalm-Bomben, um die Vietcong-Stellungen zu zerstören. Dass man sich heute unter Militärhistorikern einig ist, dass die Brandwaffen nicht von der US-Armee kamen, ist für Kims Martyrium unerheblich. Es zeigt aber umso mehr die brutale Absurdität eines Krieges, in dem Zivilisten – eine offizielle Schätzung der vietnamesischen Regierung von 1995 geht von zwei Millionen Toten aus – willkürlich und wahllos zu Opfern werden.

Glück in ihrem unsäglichen Unglück hat Kim Phúc, weil der Fotograf des Bildes, Nick Út, der für die Agentur Associated Press im Einsatz war, mit dem schreienden Mädchen in seinem Jeep in ein nahegelegenes Hospital raste, das unter britischer Verwaltung steht. Experten für Brandverletzungen sind sich heute einig, dass die von den erfahrenen Ärzten und Pflegern geleistete Erstversorgung ihrer Wunden Kim Phúc das Leben rettete. 14 Monate verbringt das Napalm-Opfer im Hospital, damit ihre Verbrennungen dritten Grades versorgt werden können.

Wendepunkt im Vietnamkrieg

Für sein Foto erhält Nick Út den Pulitzer-Preis und dazu den Preis für das Pressefoto des Jahres 1972. Die Aufnahme verändert die weltweite Wahrnehmung des Vietnamkriegs und seiner Kriegsverbrechen und markiert wohl einen Wendepunkt, an dem die öffentliche Meinung in den USA gegen den Krieg kippt.

2002 veröffentlicht das US-Nationalarchiv Tonaufnahmen aus dem Weißen Haus, in denen der damalige Präsident Nixon am 12. Juni 1972 im Gespräch mit seinem Generalstabschef H.R. Haldeman die Echtheit des Fotos anzweifelt. Nick Út entgegnete diesen Zweifeln in einem Interview ganz direkt: "Das Foto war so echt wie der Vietnamkrieg selbst. Dieser Moment war Kim Phúc. Ich werde ihn nie vergessen. In letzter Konsequenz hat er unser beider Leben verändert."

Der vietnamesisch-amerikanische Fotograf Nick Ut (Mitte), hält sein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Foto "Napalm Girl", flankiert von Phan Thi Kim Phuc (l), die auf diesem Foto abgebildet ist.

Der vietnamesisch-amerikanische Fotograf Nick Ut (Mitte), hält sein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Foto "Napalm Girl", flankiert von Phan Thi Kim Phuc (l), die auf diesem Foto abgebildet ist. © Gregorio Borgia/dpa

Kim Phúc beschreibt in einem Interview mit der New York Times im Juni 2000 ihre Gefühle: "Das Foto bringt den Moment von damals immer wieder zurück: Ich sah das Flugzeug. Ich sah das Feuer. Ich hatte solche Angst. Ich weinte und rannte und versuchte dem Feuer zu entkommen."

Anfangs waren Kims Leiden so groß, dass sie beim Waschen und Versorgen ihrer Wunden vor Schmerzen ohnmächtig wurde. Amerikanische Ärzte in Vietnam versuchten ihr mit Hauttransplantationen zu helfen. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten muss sie 17 Operationen durchmachen. Darunter auch zwei OPs im August 1984 im Schwerbrandverletztenzentrum der BG Klinik in Ludwigshafen. Das Hamburger Nachrichtenmagazin Stern hatte über die Jahre hinweg Kontakt zum "Napalm-Mädchen" gehalten.

Ihre schweren Verbrennungen zerstörten die Schweißdrüsen der geschädigten Haut für immer. Ohne Schweißdrüsen können Haut und folglich der Körper nicht abkühlen. Verzweifelt sucht Kim Phúc Linderung und schreibt im März 1983 einen Brief an die Redaktion: "Seit einigen Monaten ist es in Vietnam sehr heiß. Ich ertrage kaum meine Pein. Ich möchte am liebsten sterben. Ich bitte sie dringend, mir zu helfen." Der Stern und Gelder für Vietnam-Flüchtlinge des Kinderhilfswerks "Terre des Hommes" ermöglichen Kim Phúc die Reise nach Deutschland. Mit mächtigem Medienaufwand wurde über ihren gut dreiwöchigen Aufenthalt hierzulande berichtet.

Heldin von Propagandafilmen

Vielleicht trug dieser Medienrummel und wohl mehr noch eine niederländische Filmcrew, die Kim Phúc in Vietnam besuchte und tagelang mit ihr drehte, dazu bei, dass die vietnamesische Regierung den propagandistischen Nutzen des Kriegsopfers Kim Phúc "entdeckte". Kommunistische Offizielle machten sie zur Heldin von Propagandafilmen und schleppten sie von PR-Termin zu PR-Termin.

Kim Phúc missfiel diese Popularität. Sie war aber wohl der Grund, warum ihre Regierung der jungen Frau 1986 ein Auslandsstudium in Kuba ermöglichte. Doch ihr geschundener Körper machte Kim Phúc zu schaffen. Sie wird von Asthma-Anfällen gequält und entwickelt eine Diabetes.

Besser erging es ihr mit der Liebe. 1992 heiratet sie Bui Huy Toan, einen vietnamesischen Mitstudenten in Kuba. Sie verbringen ihre Flitterwochen in Moskau. Auf dem langen Rückflug war ein Tankstopp in Gander, einer Kleinstadt mit Flughafen in der kanadischen Provinz Neufundland eingeplant. Kim Phúc teilte ihrem Mann mit, dass sie in Gander aus dem Flugzeug aussteigen, aber nicht wieder einsteigen werde.

Das Paar bekam politisches Asyl in Kanada. Über die schwere Anfangszeit in einem ihr gänzlich fremden Land spricht sie in einem New York Times-Interview: "Ich wusste nicht, was vor mir lag. Aber ich war glücklich, denn ich war frei, ich war jetzt in Freiheit."

Auch in Kanada holt ihre Vergangenheit sie wieder ein. Eine Gruppe von US-Vietnam-Veteranen lädt sie im November 1996 nach Washington, DC ein. Kim Phúc hatte sich entschieden, zur Versöhnung zwischen den USA und Vietnam beizutragen: "Ich wollte meine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen, damit sie sich besser fühlen. Hinter dem Bild von mir steckt auch, dass Tausende und Abertausende gelitten haben, mehr gelitten haben als ich oder starben. Viele verloren Gliedmaßen. Ihre Leben waren zerstört und niemand hat davon ein Foto gemacht."

Ehrenamtliche UNESCO-Botschafterin

Bei der Versöhnungsfeier war Kim Phúc inmitten vieler amerikanischer Soldaten in Uniform. Da kam ihre Angst wieder hoch. Doch sie zwang sich stark zu sein, sagt sie rückblickend. Und die ehemaligen Soldaten, die zu Tausenden anwesend waren, danken ihr dafür mit stehenden Ovationen. "Ich habe viele körperliche und seelische Schmerzen durchlebt, manchmal so schlimm, dass ich nicht atmen konnte. Aber Gott hat mein Leben gerettet und gab mir den Glauben und gab mir Hoffnung", sagte sie bei ihrer Rede.

In den Jahren danach setzte sie sich mit all ihrer Kraft für Frieden und Aussöhnung ein. 1997 wird sie zur ehrenamtlichen UNESCO-Botschafterin des guten Willens ernannt und gründete im selben Jahr in den USA die "Kim Phúc Foundation", die medizinische und psychologische Hilfe für Kinder bereitstellt, die Kriegsopfer wurden. Sie wolle, sagt sie, etwas von der Hilfe zurückgeben, die ihr von so vielen Menschen zuteilwurde.

Heute lebt die 59-Jährige in Toronto mit ihrem Mann und zwei Söhnen: "Ich habe es geschafft, mir ein normales Leben aufzubauen." Doch die körperlichen Langzeitfolgen ihrer schweren Verbrennungen werden sie ihr ganzes Leben begleiten.

Blickt man zurück auf ihren Mut und ihr Engagement für andere, hofft man, dass sie ein Anzeichen dafür sind, dass Kim Phúc ihr seelisches Trauma überwunden hat. "Trauer gehört nicht zu meinen Charakterzügen. In meinem Haus wird viel gelacht." Übersetzt, sagt Kim Phúc, bedeutet ihr Name "goldene Fröhlichkeit".

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