Folter und Mordkomplott: Nach brutalem Überfall rasten Angeklagte in Getränkehalle

22.1.2021, 19:47 Uhr

Der Fahrer hatte die Kontrolle verloren. Der Ford Focus kam von der Fahrbahn ab, der Wagen flog 15 Meter, setzte auf einem Hügel auf, hob erneut ab, durchbrach einen Metallzaun und krachte zehn Meter entfernt in die Lagerhalle eines Getränkehändlers am Bräuleinsberg bei Lauf im Nürnberger Land. Der Ford bohrte sich in drei Metern Höhe durch die Außenwand, fünf Meter dahinter blieb er in einem Stapel Getränkekisten liegen.

Ein Unfall wie aus einem Actionstreifen. Die entsetzliche Vorgeschichte, die sich Stunden vorher, am 31. Dezember 2019, in einer Wohnung in Hersbruck abspielte, gleicht dagegen einem Horrorfilm.

Überfall in Echtzeit

Es war Brutalität in Echtzeit: Zwei junge Männer (21 und 23 Jahre) gaben sich als Polizisten aus, um gegen 0.30 Uhr in die Hersbrucker Wohnung einzudringen. Es sind jene Männer, die später, auf der Flucht vor der Polizei, den Unfall verursachen werden.


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In Hersbruck lebt ihr Kumpel Michi B. (15), das Trio kennt sich aus dem Internet, man teilt die Leidenschaft für Online-Spiele. Nun reisen Alex S. und Stefan E. mit dem Zug aus Köln an. Sie überfallen Michis Schwester und den Vater, die anderen Teilnehmer aus ihrem Online-Spiel nehmen live an der Gewaltorgie teil: der 23-jährige Alex S. hat sich mit seinem Handy in den Chat eingewählt, so können alle das Verbrechen miterleben, das Wimmern und Weinen der Opfer vor Ort hören.

Ein Jahr später ist im Landgericht Nürnberg-Fürth die Rede von Folter, Fesselungen und Mordplänen und die Jugendkammer I muss klären, wie es nur soweit kommen konnte.

Schwere Familiengeschichte

Im Jahr 2019 hing in der Hersbrucker Familie der Haussegen schon länger schief. Der 15-jährige Michi ärgerte sich über seinen Vater, im Chat behauptete er, von ihm massiv geschlagen zu werden, nun wolle ihn der Vater auch noch in einer Jugendeinrichtung unterbringen.
Die Jugendlichen im Chat schäumten über den Haustyrannen: Wie wäre es, wenn sich einer im Schrank bei Michi B. zu Hause verbirgt – und dann, wenn der Vater wieder zuschlägt, herausspringt, und ihm eine Abreibung verpasst? Im Netz wurden Rachepläne geschmiedet, und in Hersbruck eskalierte die Situation am Tag vor Silvester. Michi B. stritt einmal mehr mit seinem Vater – doch die Gewalt ging von dem Jungen aus: Er nahm den Vater in den Schwitzkasten, später bedrohte er ihn mit einem Messer. Er schrie ihn an. "Ich weiß, wie man damit umgeht, ich steche auch zu!".

Der Vater versuchte den Sohn zu beruhigen, doch laut Anklage hielt Michi nun ein brennendes Feuerzeug an ein Deospray, richtete die Stichflamme gegen den Vater, verfehlte ihn und flüchtete aus der Wohnung. Die Polizei griff ihn auf, der verzweifelte Vater ließ seinen damals 14 Jahre alten Sohn in eine Noteinrichtung für Jugendliche bringen.

Stille im Gerichtssaal

Was der Vater und Michi B.s Schwester nicht ahnen konnten: In Köln suchten Alex S. und Stefan E. eine Zugverbindung nach Hersbruck. Er, der angeblich bösartige Vater, sollte nun eine Abreibung erhalten. Es wurde eine Orgie der Gewalt.

Ein Jahr später sitzt Michi B., flankiert von Verteidiger Maximilian Bär, kreidebleich vor Gericht. Sein verprügelter Vater hat heute Schwierigkeiten zu sprechen, er stottert, und ringt um seine Fassung. "Er ist doch mein Sohn. Und dies bleibt er auch. Ich weiß aber einfach nicht, ob ich ihn wohl jemals wieder in den Arm nehmen kann."

Im Gerichtssaal ist es still, die Stimmung ist beklemmend, die Nachsicht, die Liebe dieses Vaters ist anrührend. Wie unerträglich muss es für ihn sein, zu wissen, dass in jener Nacht wohl auch sein Sohn Michi im Chat live zugehört hat, wie er von Alex S. eingeschüchtert wurde. Wie Alex S. ihm einen Hammerstiel gegen den Kopf schlug, den Holzstiel an den Hals presste, bis ihm die Luft wegblieb. Der Vater musste sich hinknien, S. drückte ihm eine Schreckschusspistole ins Genick und drückte ab; Oberstaatsanwalt Thomas Strohmeier geht von drei Scheinhinrichtungen aus. Damit nicht genug: Der Mann wurde mit Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt, die Schmerzen müssen aufgrund seiner Arthrose massiv gewesen sein.

Wochenlang lag er im Krankenhaus, er erlitt eine Gehirnblutung und geht bis heute zur Psycho-Therapie. Er und die Tochter sind umgezogen, in der Hersbrucker Wohnung hielten sie es nicht mehr aus.

Drohte Vergewaltigung?

Die Richter, der Ankläger und die Verteidiger, die Protokollführer, die Wachleute, sie alle müssen es aushalten, wenn Zeugen vor Gericht weinen – doch als Michis Schwester spricht, wird es beklemmend. Es fühlt es sich an, als stünde die Zeit still: "Ich lag auf dem Boden, er drehte mir die Arme auf den Rücken, fesselte meine Hände. Als er sich auf mich setzte, hatte ich Todesangst. Ich dachte, ich werde vergewaltigt."

Sie war eine gute Schülerin, stand kurz vor dem Abitur, und nun sind die Noten schlecht und im Zeugenstand klammert sie sich an einen kleinen Teddybären. Als sich Alex S. bei ihr für das Verbrechen entschuldigt, klingt dies so seltsam unbeteiligt, dass sie ihn fast anschreit: "Ich habe mein Leben verloren!"

Ihr Bruder Michi, davon ist sie überzeugt, war spielsüchtig, und dass Alex S. ein bösartiger Mensch ist, sei ihr und dem Vater schon lange klar gewesen – doch Michi wollte sich nicht reinreden lassen, und keine Minute auf Online-Spiele verzichten. Er schwänzte tagelang die Schule, um zu zocken.

Die Gewalt, der Übergriff, das zerstörte Vertrauen, so blass ist Michi B., als werde ihm das Ausmaß des Geschehens erst im Gerichtssaal klar. Als er zu seinem Vater und seiner Schwester spricht, versagt auch seine Stimme.

Und Stefan E.? Man mag sich nicht vorstellen, wie er in diese Sache überhaupt hineingeriet. Ein schmächtiger Kerl, der nervös zittert, nicht einmal aufblickt. Sein Mandant leide unter Autismus, erklärt Verteidiger Philipp Schulz-Merkel, diesen Plan hätte er nie schmieden können, den Kontakt zu echten Menschen lehne E. ab, im Netz Freunde zu treffen, sei für ihn mehr als genug. E.s "Beitrag" zur Tat: Er gab dem Vater eine Ohrfeige. Dabei war er angeblich nur, weil Alex S. ihm gedroht haben soll, ihn zu töten. Der Prozess geht weiter.