Interview: Die Gefahren und Chancen von Livestreams im Stadtrat

23.4.2021, 09:58 Uhr
Interview: Die Gefahren und Chancen von Livestreams im Stadtrat

© Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Aktuell diskutieren die Fraktionen im Treuchtlinger Stadtrat intern darüber, ob Stadtratssitzungen und Ausschüsse künftig in Echtzeit ins Internet übertragen werden sollen. Es ist ein Thema, das viele bewegt, aber zwei Seiten kennt: Denn das Persönlichkeitsrecht der Stadträte trifft hier auf den Ruf nach mehr Transparenz. Bei der Stadtratssitzung im Mai steht das Thema erneut auf der Agenda. Wir haben vorab mit einem Politikwissenschaftler über das Für und Wider einer Übertragung gesprochen.

Herr Stüwe, ob ein Stadtrat seine Sitzungen live überträgt oder nicht, scheint ja durchaus ein kontroverses Thema zu sein – nicht nur in Treuchtlingen, sondern auch in anderen Städten in ganz Bayern gibt es immer wieder Anträge dazu, aber einige finden keine Mehrheit und wurden mehrfach abgelehnt. Was würden Sie denn sagen: Gibt es sowohl für das "Ja" als auch für das "Nein" zum Livestream bestechende Argumente?

In politischen Fragen gibt es oft kein eindeutiges "Richtig" oder "Falsch". Die Entscheidung hängt davon ab, wie man grundsätzlich zu bestimmten Fragen steht oder welches Demokratieverständnis man ganz persönlich hat. Beispielsweise kann man bei politischen Fragen stärker Input-orientiert sein, also größten Wert auf demokratische Beteiligung und Transparenz legen. Oder man schaut eher auch auf Effizienz und Entscheidungsfähigkeit und ist dann stärker Output-orientiert. Entsprechend kann man sich auch bei Livestreams von Stadtratssitzungen positionieren.

Die Persönlichkeitsrechte von Stadträten

Interview: Die Gefahren und Chancen von Livestreams im Stadtrat

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An sich handelt es sich ja bei den Sitzungen, die künftig bei uns in Treuchtlingen übertragen werden könnten, ohnehin um öffentliche Debatten von Lokalpolitikern. Worin liegt dann also die Brisanz, diese Öffentlichkeit noch mehr auszudehnen?

Durch Livestreams kann die Zahl der Zuhörer schnell in die Hunderte oder Tausende gehen, und das ist schon eine andere Hausnummer. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass Wortbeiträge aufgezeichnet und über das Internet auf Dauer verfügbar gemacht werden, unter Umständen auch in missbräuchlicher Weise. Dies berührt das Persönlichkeitsrecht der Kommunalpolitiker und Kommunalpolitikerinnen, das unbedingt gewahrt werden muss. Aus diesen Gründen ist das sorgfältige Abwägen der Vor- und Nachteile von Livestreams in Treuchtlingen wichtig und geboten.

Stadträte sind also Personen des öffentlichen Lebens, aber dieser Öffentlichkeit können Grenzen gesetzt werden. Wo liegen diese genau?

Politiker haben wie alle Bürger auch ein Persönlichkeitsrecht, das zu achten ist. Für sie wie für den Stadtrat als Ganzes gelten darüber hinaus die Regelungen der Datenschutzgrundverordnung. Da die Anfertigung und Übertragung von Ton- und Bildaufnahmen eine Verarbeitung von personenbezogenen Daten darstellt, sind Livestreams nach derzeitiger Rechtslage untersagt, solange keine Einwilligung der Betroffenen vorliegt.

Würden Sie in dieser Hinsicht zwischen dem ehrenamtlichen Stadtrat einer Kleinstadt, einem Stadtrat der Landeshauptstadt oder einem Politiker im Bundestag Unterschiede ziehen? Wer von ihnen hat mehr Recht auf "Privatsphäre" – und warum?

Privatsphäre ist hier nicht der richtige Begriff, denn es geht bei Livestreams ja um die Tätigkeit, die Menschen in einem öffentlichen Amt ausüben. Wer als Stadtrat an einer Stadtratssitzung teilnimmt, handelt hier eben nicht für sich als Privatmann oder Privatfrau, sondern für das ganze Gemeinwesen. Prinzipiell gilt das für einen Stadtrat genauso wie für den Deutschen Bundestag.

Die Gefahr von Schaufensterreden

Worin liegen die Unterschiede?

Die Aufgabenbereiche und die Reichweite der Entscheidungen sind natürlich sehr verschieden. Nun könnte man vielleicht sagen, dass für den Bereich der Bundespolitik ein größerer Bedarf an Öffentlichkeit besteht als im kommunalen Bereich, aber ich würde mich dem nicht anschließen. Auch in der Kommune gibt es wichtige Fragen zu klären, die mitunter große Aufmerksamkeit erzeugen können.

Über allem schwebt dabei das große Wort "Transparenz". Kann es in einem politischen Entscheidungsprozess denn "zu viel" Transparenz geben?

Transparenz ist im demokratischen Verfassungsstaat und insbesondere im parlamentarischen Prozess eine sehr wichtige Kategorie. Bürgerinnen und Bürger müssen sich darüber informieren können, wie und warum bestimmte politische Entscheidungen getroffen werden. Für den Bundestag und die Landesparlamente ist der Grundsatz der Öffentlichkeit sogar verfassungsrechtlich festgeschrieben. Allerdings gibt es durchaus Fälle, bei denen die Öffentlichkeit besser nicht dabei ist.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Auf kommunaler Ebene ist Vertraulichkeit geboten, wenn es um persönliche Angelegenheiten eines Einwohners oder um den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen geht. Aus diesen Gründen sind zum Beispiel nicht-öffentliche Sitzungen von bestimmten Ausschüssen gerechtfertigt.

Auf der anderen Seite wäre eine Live-Übertragung aus dem Stadtrat ebenso ein Beitrag zur Barrierefreiheit: Jeder, der aufgrund von eingeschränkter Mobilität, wegen den Kindern, aufgrund des Verdachts einer Corona-Infektion das Haus nicht verlassen kann, könnte dann trotzdem von zuhause alles mitverfolgen.

Das stimmt. Gerade in den letzten Monaten der Pandemie haben wir gelernt, welche Chancen uns durch die Digitalisierung ermöglicht werden. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Lernprozess auch im politischen Bereich seine Spuren hinterlassen wird. Die Debatte über Livestreams im Treuchtlinger Stadtrat ist ja auch ein Beispiel dafür.

Eine bessere Zugänglichkeit

Welche Vorteile bietet ein Video live aus dem Stadtrat denn Ihrer Meinung nach für das Verhältnis der Bürger zur Kommunalpolitik?

Livestreams würden auf jeden Fall mehr Beteiligung in der Kommunalpolitik ermöglichen. Die Hürde, sich auf den Weg in die Stadtratssitzung zu machen, ist sicher höher als ein Klick am Computer oder ein Wischen auf dem Smartphone. Die Bürger könnten sich direkt über die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse im Stadtrat informieren – ohne die Vermittlung durch die Medien. Für den demokratischen Prozess wäre dies sicher von Vorteil.

Allerdings muss man realistisch bleiben: Die Erfahrungen von Gemeinden, in denen Livestreams bereits praktiziert werden, zeigen, dass sich nach anfänglichem Interesse irgendwann eine gewisse Müdigkeit breitmacht. Wenn Livestreams eingeführt werden, ist die Beteiligung zunächst noch relativ groß, um sich später dann auf einem niedrigeren Niveau zu konsolidieren. Man darf nicht erwarten, dass durch Livestreams die Bereitschaft zur politischen Beteiligung konstant hoch bleibt.

Bei den ersten Gesprächen im Treuchtlinger Stadtrat kamen auch Bedenken auf, dass die Diskussionskultur unter einer Live-Übertragung leiden könnte. Ist es denn in Ihren Augen wahrscheinlich, dass das Bewusstsein, eine Kamera im Raum zu haben, die Debatte verzerrt?

Dieses Risiko ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Präsenz einer Kamera im Sitzungssaal den einen oder die andere zu Schaufensterreden ermutigt. Es liegt dann gegebenenfalls an der Sitzungsleitung oder anderen Sitzungsteilnehmern, dem Einhalt zu gebieten. Blender und Dauerredner werden im Übrigen auch von der Öffentlichkeit ziemlich schnell entlarvt …

Es wird einen Trend zu mehr Livestreams geben

Wenn wir nun in die Zukunft blicken: Denken Sie, dass diese Debatte in zehn bis zwanzig Jahren, vielleicht auch noch früher, längst hinfällig werden könnte und eine Übertragung ohnehin Pflicht wird?

Ich glaube nicht, dass Livestreams zur Pflicht werden, denn dies würde wiederum erheblich in das Entscheidungsrecht der (Kommunal)-Parlamente eingreifen. Selbst im Deutschen Bundestag gibt es keine gesetzliche Pflicht zur Zulassung von Ton- und Bildübertragungen. Es wird jedoch sicherlich einen Trend geben, dass immer mehr Gemeinderäte und Stadträte diese Möglichkeit zulassen.

Ist es denn historisch so, dass die Politik in Deutschland mit den Jahren insgesamt immer transparenter geworden ist – Lässt sich hier ein Trend erkennen?

Man kann durchaus die These aufstellen, dass das Thema Transparenz im politischen Prozess der Bundesrepublik in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Die Ursachen dafür sind vielfältig.

Der wichtigste Grund ist sicherlich, dass sich das Demokratieverständnis der Deutschen seit etwa 40 bis 50 Jahren verändert hat. Während man bis in die 1970er Jahre hinein noch Reste einer obrigkeitsstaatlichen Kultur vorfand, hat sich seitdem immer stärker eine bürgerliche Gesellschaft entwickelt, für die demokratische Beteiligung und Mitbestimmungsrechte eine größere Rolle spielt als früher. Damit stiegen auch die Forderungen und Erwartungen an die Politikerinnen und Politiker, die sich nun viel stärker erklären müssen.

Auch die Medien spielen bei der Kontrolle politischer Akteure eine Rolle. Einzelne politische Skandale erhöhten die Sensibilität für die politische Verantwortung von Mandatsträgern. Und schließlich sind noch die technischen Möglichkeiten im Medienzeitalter zu nennen, die dazu beitragen, dass Transparenz eine wichtige demokratische Kategorie geworden ist.

Wie es andernorts läuft

Lassen Sie uns abschließend noch einen Blick auf die internationale Politik werfen: Wissen Sie, wie andere Länder mit dieser Thematik umgehen? Man munkelt ja, wir Deutschen wären vergleichsweise streng mit dem Datenschutz.

Das Bild ist im internationalen Vergleich sehr uneinheitlich. Die USA spielten bei der Live-Übertragung von Parlamentssitzungen auf allen Ebenen eine Vorreiterrolle. Schon seit Jahrzehnten kann man dort sogar Ausschusssitzungen im US-Kongress im Fernsehen und jetzt im Internet mitverfolgen. Auch auf kommunaler Ebene ist dies in vielen Bundesstaaten gängige Praxis.

Gibt es auch Länder, in denen man sich lange dagegen gesträubt hat?

Viel schwerer taten sich dabei beispielsweise unsere britischen Freunde: Im Unterhaus wurden Fernsehkameras erst im Jahr 1985 zugelassen. Jahrzehntelang hatte man darüber gestritten – mit den gleichen Argumenten übrigens, die heute in Treuchtlingen diskutiert werden.

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