Regens-Wagner-Wohnheim in Treuchtlingen

30.11.2011, 07:29 Uhr
Regens-Wagner-Wohnheim in Treuchtlingen

© Shaw

Wenn Manfred Rehm derzeit in seinem Büro im weinroten Flachbau der Tagesstätte sitzt und durchs gekippte Fenster ein Paar Gesprächsfetzen der Spaziergänger auf dem Weg zum benachbarten Kurpark auffängt, verdreht er oft innerlich die Augen. „Schau mal, das ist die neue Kopfklinik“, hört er da nicht allzu selten. Denn mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT) assoziieren die Leute häufig Intensivmedizin und gruselige Operationen am offenen Gehirn.


Dabei will der Begriff etwas ganz anderes sagen – zumindest so, wie ihn Rehm und die Regens-Wagner-Stiftung verstehen. Ein rein körperliches Trauma haben die meisten Bewohner der Einrichtung zwar tatsächlich erlitten: einen schweren Sturz oder Verkehrsunfall, eine Gerhirnblutung oder einen Schlaganfall. „Erworbene Hirnschädigung“ nennt das der Fachmann – im Gegensatz zu einem angeborenen Defizit. Doch der Auslöser ist bei den Menschen in der Lessingstraße oft schon viele Jahre her. Was sie bis heute von ihren gesunden Mitmenschen unterscheidet, sind die psychischen Veränderungen und die seelischen Narben, die das Schicksal bei ihnen hinterlassen hat – eine Traumatisierung infolge des Traumas.


„Offenes Wohnen mit Assistenz“


Das Regens-Wagner-Wohnheim und die angegliederte Tagesstätte sind deshalb keine Klinik – und auch keine „Verwahranstalt“. Die Bewohner gehen auf dem mehr als 4600 Quadratmeter großem Areal frei ein und aus und werden vom Personal lediglich therapeutisch sowie bei Alltagsaufgaben begleitet – ein „offenes Wohnen mit Assistenz“. Eingliederung und Teilhabe sind das Ziel, letztlich bis hin zur Selbstständigkeit und einem neuen Beruf. Den finden viele der Trauma-Opfer in den Werkstätten von Regens Wagner in Absberg oder Zell.


Schwerere Fälle bis hin zum Komapatienten nimmt die Einrichtung zwar bedingt ebenfalls auf, aber „nur, solange eine Eingliederungshilfe sinnvoll ist“, wie Rehm betont. Ausgeschlossen sind Menschen mit Beatmung, Suchterkrankung, Psychose, Suizid- oder Weglaufgefahr.


Die zweite Klientel sind Trauma-Opfer, die bereits zuhause leben und ihren Alltag meistern, zur Therapie und Förderung aber die Tagesstätte besuchen. Während das zweigeschossige Wohnheim mit zwei Ein­zelappartements und sechs Wohngemeinschaften insgesamt 20 Personen Platz bietet, ist die ebenerdige Tagesstätte deshalb für 24 Besucher ausgelegt.


Montags bis donnerstags von 9 bis 16 Uhr sowie freitags von 9 bis 13 Uhr hat sie geöffnet und soll laut Rehm auch den Angehörigen „Raum für soziale Teilhabe geben“. Denn wenn ein naher Verwandter durch ein Schädel-Hirn-Trauma „plötzlich aus dem Leben gerissen wird“, sei oft auch die Familie erst einmal mit der Situation und den gravierenden Wesensänderungen des geliebten Menschen überfordert. In der Tagesstätte können sie Schritt für Schritt lernen, „diese Tatsache in ihr Lebenskonzept zu integrieren“.


Wie intensiv die Betreuung in der Lessingstraße unter Umständen sein kann, zeigen die Personalzahlen: 15 bis 20 Kranken- und Heilerziehungspfleger arbeiten im Wohnbereich sowie mindestens zehn Mitarbeiter in der Tagesstätte, darunter Ergo-, Kunst- und Musiktherapeuten, Pä­dagogen und eine Neuropsychologin. Für externe Partner stehen ebenfalls Räume bereit, so zum Beispiel für Physiotherapeuten und Logopäden.


Anders-Sein als Bereicherung


Für Treuchtlingen als Standort hat sich die Regens-Wagner-Stiftung laut Manfred Rehm vor allem wegen des beinahe idealen Umfelds entschieden. „Heute baut man eine solche Einrichtung nicht mehr irgendwo abgeschottet am Ortsrand, sondern möglichst in Innenstadtnähe“, erklärt er. Maßstab sei die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Den Traumaopfern werde in der Altmühlstadt durch die kurzen Wege zu Geschäften, Bahnhof, Therme oder Kurpark ein Maximum an gesellschaftlicher Beteiligung ermöglicht. Umgekehrt erhalte die Bevölkerung die Chance, das Anders-Sein der Trauma-Opfer anzunehmen und als Bereicherung schätzen zu lernen.


Regens-Wagner-Wohnheim in Treuchtlingen

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Ein wenig aus dem Therapiealltag erzählt der Künstler, Ergo- und Bewegungsempfindungs-Trainer Peter Webert. Er bemüht sich, „die Möglichkeiten, die SHT-Leute an Bewegung noch haben, zu erhalten und weiterzuentwickeln“ – und zwar ohne technische Hilfen. Kein einfaches Unterfangen, wenn der Betroffene halbseitig gelähmt ist, verbal nicht mehr kommunizieren kann oder innerhalb von Stunden alles gerade Gelernte wieder vergisst.


Gerade die „sprachlose“ Kommunikation über Kunst, Musik, Bewegung und Berührung eröffnet laut Webert aber auch ganz neue Möglichkeiten. So sei Kreativität „ein Medium, in dem man auch als Mensch mit Defiziten nicht zurückstecken muss“. Denn für die Traumaopfer sei es von großer Bedeutung, „zu spüren, dass man noch wirksam ist“, also eine Rückmeldung der Umwelt auf die eigenen Aktionen zu erhalten. Eine solche Wechselwirkung wünsche er sich für die Zukunft auch zwischen der Regens-Wagner-Einrichtung und der Altmühlstadt.


Bürgern stehen die Türen offen


Eingeweiht werden das Wohnheim mit einer Grundfläche von 809 Quadratmetern und die 824 Quadratmeter große Tagesstätte nach knapp eineinhalb Jahren Bauzeit am Freitag im internen Kreis. Am Samstag, 3. Dezember, steht das Areal dann allen Bürgern und Besuchern offen. Bewohner und Betreuer informieren mit Fotowänden und persönlich über die Arbeit vor Ort, es gibt Themenräume, Musik und Le­ckeres aus der Küche der Tagesstätte.

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