Stammkneipe ICE 1602 München-Treuchtlingen

19.8.2017, 07:04 Uhr
Stammkneipe ICE 1602 München-Treuchtlingen

© Benjamin Huck

Heute verläuft alles nach Plan. Um 17.39 Uhr verlässt der ICE den Münchner Hauptbahnhof. Mit an Bord sind Bernhard Reil und Michael Glas aus Treuchtlingen. Sie und etwa 150 andere Arbeitnehmer aus der Altmühlstadt pendeln täglich von Montag bis Freitag mit der Bahn in die Landeshauptstadt. Rund vier Stunden sitzen sie im Zug.

Glas pendelt schon lange. Im April 2003 kam der gebürtige Oberbayer der Liebe wegen nach Treuchtlingen. Seinen Job als Bürokaufmann in München hat er behalten und nimmt damit eine ziemliche Fahrtstrecke in Kauf. Irgendwann merkten Glas und die anderen Pendler, dass immer dieselben Leute zur selben Zeit im Zug sitzen. Seither treffen sie sich an einem Tisch, meist im Wagen 21 an der Spitze des Zugs, unterhalten sich und spielen Schafkopf.

Der ICE 1602 fährt montags bis donnerstags nur von München über Augsburg, Donauwörth und Treuchtlingen nach Nürnberg. Am Freitag geht es noch weiter nach Berlin. „Das merkt man an den vielen Koffern der Reisenden“, sagt Reil. Freitags gönnen sich die Stammtisch-Pendler ein Feierabendbier im Bordbistro, denn am Wochenende sind in der Regel zwei zugfreie Tage angesagt.

Dass der 1602 überhaupt in Treuchtlingen hält, sei ihrem Protest zu verdanken, sagt Reil. Denn bis Dezember 2011 fuhr gegen 17.30 Uhr, wenn viele Arbeitnehmer Feierabend haben, kein Zug. Die Pendler mussten die Regionalbahn nehmen, die mindestens 45 Minuten länger braucht.

Wenn auch nur ein Zug auf ihrem täglichen Weg ein bisschen Verspätung hat, kommen die Pendler arg in Zeitnot. Etwa morgens, wenn sich der Regionalzug von Treuchtlingen nach Donauwörth verspätet. Denn der ICE wartet nicht, sondern die Fahrgäs­te dann am Bahnsteig – eine ganze Stunde, bis der Regionalzug kommt. Oder sie schlagen sich nach Augsburg durch und sehen, wie sie weiterkommen. Pünktlich sind Reil und seine Mitreisenden dann nicht in der Arbeit und müssen die fehlende Zeit am Abend nacharbeiten. So geraten die erneut in Schwierigkeiten, den Zug nach Hause zu erwischen.

Stammkneipe ICE 1602 München-Treuchtlingen

© Benjamin Huck

„Ich führe eine Liste, wie viele Minuten Verspätung ich ansammle“, erklärt Michael Glas. Gut 1700 Minuten kommen in einem Jahr zusammen. Erst ab einer Stunde gibt es fünf Euro Entschädigung für die Jahreskartenbesitzer, ab zwei Stunden sind es zehn Euro. „So 150 Euro pro Jahr kommen da schon zusammen“, berichtet Glas. Bernhard Reil schreibt nicht mehr jede Verzögerung auf. Doch wenn er mehr als zwei Stunden in einer Woche zu spät ist, bekommt der bayerische Bahn-Chef einen Brief. „Freundlich ist der dann nicht“, sagt Reil.

Doch die Pendler möchten sich nicht nur aufregen, sie suchen auch nach Lösungen für die aktuelle Situation und die Herausforderungen der Zukunft. Denn am 10. Dezember dieses Jahres soll es zur Eröffnung der Schnellfahrstrecke zwischen Nürnberg und Erfurt bis nach Berlin einen komplett neuen Fernverkehrs-Fahrplan geben. Ob der ICE 1602 dann weiterhin um 17.39 Uhr fährt, ist nicht sicher.

Schon in den vergangenen zwei Jahren haben die Treuchtlinger hunderte Dokumente gesammelt, um den Fernverkehrshalt in der Altmühlstadt zu stärken. Sie sprachen mit Bürgermeis­ter, Landrat, Landtags- und Bundestagsabgeordneten. Doch von der Bahn kamen kaum Reaktionen und wenn, dann nur beschwichtigende.

Dabei hätten die Stammtischler sogar konkrete Lösungsvorschläge. So fährt jeden Morgen ein Zug leer von München nach Donauwörth. Mit diesem ICE starten die Pendler dann um 5.57 Uhr in die Landeshauptstadt, damit sie rechtzeitig um 8 Uhr am Arbeitsplatz sind. Am Vorabend hingegen fährt der letzte (Regional-)Zug nach Treuchtlingen um 21.29 Uhr. „Am kulturellen Leben Münchens kann so keiner teilnehmen“, beklagt Glas. Die Idee, einen ICE abends nach Treuchtlingen fahren zu lassen, von wo aus er dann am Morgen wieder zurück nach München fahren könnte, wies die Bahn jedoch ab. Es gebe keine Abstellmöglichkeiten in der Altmühlstadt, so die Begründung des Staatskonzerns.

Pendler bringen Geld in die Region

Den Pendlern geht es nicht nur um ihren persönlichen Komfort, sie machen sich auch Gedanken über die Zukunft der Region. Laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2016 verlassen jeden Tag 12.600 Menschen den Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen, um zur Arbeit zu fahren. Nach München sind es fast 450 Männer und Frauen.

„Bei uns fehlen hochqualifizierte Arbeitsplätze“, meint Reil. Er selbst, der als Forstingenieur in der Automobilbranche tätig ist, findet vor Ort keinen Job und ist deshalb gezwungen, zu pendeln. Ihn ärgert es, dass die Arbeitgeber immer mehr Flexibilität verlangen, die Bahn „diese Flexibilität aber zunichtemacht.“ Es sollte doch im Interesse der Politik sein, die Menschen in der Region zu halten. „Wir bringen auch viele Steuereinnahmen in den Landkreis.“

Ob das in Zukunft so bleibt, ist ungewiss. Sollte die Bahn das Fernverkehrsangebot von und nach Treuchtlingen einschränken, überlegt sich zumindest Bernhard Reil, nach München zu ziehen. Eigentlich möchte er das nicht: „München ist teuer, viele können sich keine Wohnung leisten. Trotzdem sind sie gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, weil es dort keine Arbeitsplätze gibt.“ Außerdem befürchtet er, dass Altmühfranken eine Vergreisung droht, wenn viele junge, gut ausgebildete Menschen den Landkreis verlassen.

Die Pendler Reil und Glas würden sich wünschen, dass die Industrie mehr Arbeitsplätze auf dem Land schafft. „Warum sollen die Mitarbeiter immer zur Firma kommen und nicht mal umgekehrt?“, meint Reil. Glas hingegen könnte sich vorstellen, dass die Behörden mehr Büroarbeitsplätze auf dem Land schaffen, wovon die Bevölkerung profitieren würde.

Trotz aller Erlebnisse mit der Bahn kommt es für die Stammtisch-Pendler nicht in Frage, mit dem Auto zu fahren. „Auf der Straße herrscht Krieg“, sagt Reil, der früher viele Jahre im Außendienst unterwegs war und diese Zeit nicht vermisst. Wer morgens mit dem Wagen von Treuchlingen nach München wolle, brauche je nach Staulage mindestens zwei Stunden. Mit dem ICE über Donauwörth dauert es nur anderthalb Stunden und „ist viel entspannter“, so Glas.

Günstiger als mit dem Auto

Nicht zuletzt die Kosten machen das Bahnfahren attraktiv. Bernhard Reil hat ausgerechnet, dass ihn die Strecke mit dem Auto gut 30.000 Euro im Jahr kosten würde. Das Bahnticket gibt es bereits für 3800 Euro. Manche Pendler-Kollegen haben sogar die Bahncard 100, mit der sie für 4190 Euro jederzeit in ganz Deutschland mit dem Zug fahren können. Manche nutzen die Karte auch für die Urlaubsreise.

Nicht zuletzt wegen der Ticketpreise hoffen Reil und Glas, dass die aktuellen Verbindungen bestehen bleiben. Ansonsten müssten sie in die langsameren Regionalzüge umzusteigen – weniger Leistung für denselben Preis.

Obwohl sie regelmäßig mit der Bahn fahren, kennen die Pendler die Zugbegleiter nicht. Auch Beziehungen bauen sich keine auf. Ab und an gebe es aber lustige Erlebnisse, erzählt Glas. So waren die Pendler eines Tages nur zu zweit, es fehlten also zwei Mitspieler für die übliche Kartelrunde. „Ich habe den Schaffner gefragt, ob er eine Durchsage machen kann, dass wir noch zwei Mitspieler brauchen“, erinnert sich Glas. Doch stattdessen setzte sich der Schaffner gleich mit einem Kollegen an den Tisch und spielte eine Runde mit – Schafkopf am Stammtisch im ICE 1602.

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