Treuchtlingen gehen die Fachärzte aus

3.11.2018, 06:05 Uhr
Treuchtlingen gehen die Fachärzte aus

© Sven Hoppe/dpa

Petra Sulla ist unzufrieden. Seit 27 Jahren kümmert sich die Augenärztin in ihrer Praxis in der Treuchtlinger Stadtmitte um die Gesundheit aller Patienten. Doch der Arbeitsalltag, den sie beschreibt, hat wenig mit einer Idealversorgung zu tun. Wie am Fließband arbeitet die 59-Jährige. Etwa sieben Minuten kann sie sich pro Person nehmen, das Wartezimmer ist oft bis auf den letzten Platz besetzt – nachdem die Patienten bereits zehn Monate auf einen Termin gewartet haben. „Ich mache meine Arbeit sehr gern, doch lange halte ich das nicht mehr durch“, so Sulla.

Nun hat sie einen Schlussstrich gezogen: Zum 1. Januar 2019 steigt Sulla aus der kassenärztlichen Versorgung aus und behandelt nur noch auf Rechnung. Neben der Arbeitsbelastung – die Augenärztin spricht von 50 Stunden pro Woche mit sehr wenigen Pausen – macht ihr das Verhalten einiger Patienten zu schaffen: Ihre Sprechstundenhilfen würden am Telefon beleidigt, weil die Anrufer nicht eher einen Termin bekommen, sie selbst werde sogar auf der Straße angefeindet, weil Menschen mit der Terminvergabe unzufrieden sind. „Über meine Behandlung hat sich allerdings noch niemand beschwert“, sagt Sulla.

Die Medizinerin möchte deshalb auch klarstellen, dass sie nicht aus finanziellen Gründen auf die Behandlung gegen Rechnung umstellt. Vielmehr rechne sie damit, sogar Einbußen zu haben, wenn dann weniger Patienten zu ihr kommen. Bisher erhält Sulla pro Quartal und Patient 18 Euro von den gesetzlichen Krankenkassen. Müssen die Patienten ihren Besuch selbst bezahlen, werden zwischen 50 und 100 Euro fällig – je nach Art der Behandlung. „Natürlich klären wir über die Kosten und die Vorteile der Behandlung im Vorfeld genau auf. Zeit haben wir ja dann genug“, so Sulla.

Normalerweise übernehmen die gesetzlichen Kassen eine solche Rechnung nicht. „Doch wenigstens die Regelsätze, die ich bislang bekommen habe, sollten sie erstatten“, erklärt Sulla. Maximal 2200 Patienten darf sie pro Quartal behandeln, so kommen auch die langen Wartezeiten zustande.

Mehrarbeit durch Fortschritt

Der medizinische Fortschritt trägt ebenfalls seinen Teil zur Mehrarbeit bei. Neue Diagnosen und Therapien helfen, manche Krankheiten besser zu kurieren, verlangen aber mitunter an die 30 Termine pro Patient – für den Arzt eine Zusatzbelastung, die es so vorher nicht gab, für den Patienten ein Schritt in ein besseres Leben.

Das Problem am aktuellen System ist laut Sulla das „WANZ-Prinzip“ der gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung. Die Abkürzung steht für „wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckdienlich“. Das sei jedoch nicht immer die beste medizinische Versorgung, kritisiert Sulla. „Auch sehen sich Ärzte zunehmend mit einem System konfrontiert, das von chronischem Zeitmangel und hocheffizienter Patientenverwaltung getrieben ist.“

Deshalb hat sich Petra Sulla entschieden, nach 33 Jahren ihre Kassenzulassung zurückzugeben. „Als Ärztin möchte ich in Zukunft meine Patienten ausschließlich nach deren medizinischen Bedürfnissen und persönlichen Wünschen behandeln, ohne dabei die bürokratischen Daumenschrauben der Kassenärztlichen Vereinigung beachten zu müssen.“

Teurer, aber transparent

Eines möchte sie aber klarstellen: Die Praxis steht weiterhin allen offen. Lediglich die Form der Abrechnung werde sich für gesetzlich Versicherte ändern – bei voller Kostentransparenz, wie Sulla verspricht. Denn das bisherige System sei höchst intransparent: „Der Versicherte weiß nicht, welche Kosten seine Behandlung verursacht und wie viel davon seine Krankenkasse an den Arzt bezahlt“, erklärt Sulla. In der Selbstzahlerpraxis soll es künftig zudem kürzere Wartezeiten auf Termine und einen besseren Service geben.

Als sogenannte Selbstzahler können auch Kassenpatienten privatmedizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Der Arzt stellt dann eine Privatrechnung aus. „Wenn man davon ausgeht, dass die Kassen viele, sehr wesentliche Präventionsmaßnahmen der modernen Augenmedizin wie zum Beispiel die Schlaganfallvorsorge oder die Makula- und Glaukomvorsorge sowieso nicht übernehmen, macht der Besuch einer Privatpraxis auch für Kassenpatienten mehr als Sinn“, meint Sulla.

Trotzdem ist die Umstellung ein schwerer Schlag für die Facharztabdeckung im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen, die vor allem bei den Augenärzten ohnehin zur Unterversorgung tendiert. Nur drei davon gibt es hier – jeweils einen in Weißenburg, Gunzenhausen und Treuchtlingen. Der Versorgungsgrad liegt damit schon jetzt nur bei 64,6 Prozent – das ist der zweitniedrigste Wert in Bayern nach dem oberfränkischen Landkreis Kronach. Eigentlich sind für den Landkreis fünf Vollzeitstellen vorgesehen, doch zwei sind bereits seit mehr als zehn Jahren unbesetzt.

Politik hat das Thema verschlafen

Was also tun gegen den Ärztemangel? Petra Sulla ist der Meinung, dass Krankenkassen und Politik das Thema jahrelang „verschlafen“ haben. Erst langsam steige die Zahl der Medizin-Studienplätze wieder, in Augsburg soll sogar eine neue medizinische Fakultät gegründet werden, um mehr Ärzte auszubilden.

Diese Maßnahmen mögen hilfreich sein, für viele kommen sie aber zu spät. Denn eine Facharztausbildung umfasst sechs Jahre Studium plus fünf Jahre Facharzttätigkeit. Also vergehen elf Jahre, bevor ein fertig ausgebildeter Haut-, Hals-Nasen-Ohren- oder Augenarzt eine Praxis eröffnen kann.

Ganz zu schweigen davon, dass sich die Absolventen dann auch auf dem Land niederlassen wollen müssen. Sulla selbst hat versucht, in ihrer Praxis einen zweiten Arzt anzustellen. Es hätten sich sogar Interessenten umgesehen, erzählt sie – doch niemand habe Lust gehabt, in der Altmühlstadt zu arbeiten. Die „weichen“ Standortfaktoren wie Kultur, Ausgehen und Freizeitmöglichkeiten halten viele junge, gut ausgebildete Menschen eher in den Großstädten.

Nicht einmal geschenkt wollte jemand die Praxis

Das ist kein neues Phänomen. So berichtet Sulla von einem Arzt aus Gunzenhausen, der seine Praxis Mitte der 1990er Jahre zum Preis von einer D-Mark weitergeben wollte, um es einem möglichen Nachfolger schmackhaft zu machen. Vergebens. Hinzu kommt die Konkurrenz durch die Krankenhäuser, in denen Ärzte als Angestellte tätig sind, geregelte Arbeitszeiten und weniger Verwaltungsaufwand haben sowie bedenkenlos in den Urlaub gehen können – es sind ja noch andere Kollegen da.

Doch was bleibt den Treuchtlinger Patienten nun übrig, wenn sie sich ab Januar die Rechnung bei Petra Sulla nicht leisten können? Die Ärztin selbst verweist auf die großen Praxen, etwa in Nürnberg, Roth, Ansbach, Eichstätt oder Donauwörth. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB) empfiehlt zudem ihre Terminservicestellen, die ein Gespräch mit einem Augenarzt vermitteln, auch ohne Überweisung.

„Seit Einführung der Servicestellen konnten alle Terminanfragen im ambulanten Bereich vermittelt werden, und kein einziger Patient musste an ein Krankenhaus verwiesen werden“, sagt KVB-Sprecherin Birgit Grain auf Anfrage. „Dies zeigt, dass die Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten in Bayern bestens funktioniert.“ Nur falls die Servicestelle innerhalb der gesetzlichen Frist von vier Wochen keinen Termin bei einem niedergelassenen Facharzt anbieten kann, vermittelt sie alternativ einen ambulanten Behandlungstermin im Krankenhaus. Dies war aber laut Grain in Bayern bislang noch nie der Fall.

Grundsätzlich sei jedoch zu sagen, dass der Druck auf die niedergelassenen Ärzte ständig zunimmt, räumt die KVB-Sprecherin ein. Durch die demographische Entwicklung und die wachsenden medizinischen Möglichkeiten steige die Patientenzahl, und auch der Behandlungsaufwand werde größer. „Will man keine Fließbandmedizin, wird die Terminvergabe automatisch schwieriger. Doch nach wie vor sind die Wartezeiten in Bayern im Vergleich zu anderen Gesundheits­systemen eher kurz als lang.“

Zu viel Bürokratie

Die Bürokratie ist freilich auch der Vereinigung der Kassenärzte ein Dorn im Auge: „Ärzte und Psychotherapeuten müssen viele, teils komplizierte oder unnötige administrative Tätigkeiten ausführen, die vom Gesetzgeber verlangt werden.“ Die KVB möchte, dass ihre Mitglieder wieder mehr Zeit für die Patienten haben. Ziel sei es, die Bürokratie in den Praxen zu reduzieren und dabei zu helfen, unvermeidbare Aufgaben leichter zu bewältigen.

Ärzte, die sich in Bayern niederlassen möchten, unterstützt die KVB und informiert sie über freie Stellen. Bei sogenannten „Gründer-Abgeber-Foren“ bringt sie etwa Mediziner, die ihre Praxis weitergeben möchten, mit Interessenten zusammen. Doch zumindest im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen hat dies bisher keinen Erfolg.

In Treuchtlingen wartet Augenärztin Petra Sulla nun gebannt auf den 1. Januar. Langjährige Patienten haben schon ihr Bedauern darüber geäußert, dass sie aus der Kassenversorgung aussteigt. Etwa ein Drittel der Patienten habe jedoch auch schon Termine für das nächste Jahr ausgemacht. Sie wollen nicht auf ihre bekannte Ärztin vor Ort verzichten. Manche können es wohl schlicht auch nicht, da die Wege zu anderen Praxen sehr weit sind.

Sulla möchte derweil in moderne Geräte investieren und sich noch besser um ihre Patienten kümmern. „Mindestens zehn Jahre möchte ich meinen Beruf noch ausüben“, sagt sie. Dann wäre sie 69 Jahre alt – früher mussten Ärzte mit 68 zwangsweise in den Ruhestand gehen. Doch weil dann vielerorts auf dem Land die medizinische Versorgung einbrechen würde, wurde diese Grenze unlängst gestrichen.

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