25. Oktober 1970: Kein Platz für Sport und Freizeit

25.10.2020, 09:30 Uhr
25. Oktober 1970: Kein Platz für Sport und Freizeit

© Hans Kammler

Dr. Alfons Bayerl, Staatssekretär im Bundesjustizministerium in Bonn, besichtigte die Strafanstalten und sammelte hinter Mauern und Gittern Erfahrungen und Erkenntnisse, die sich in dem in Vorbereitung befindlichen Bundesgesetz über den Strafvollzug niederschlagen sollen. Seine Begleiter waren die Landtagsabgeordneten Lieselotte Seihe (SPD), Vorsitzende des örtlichen Gefängnisbeirats, Regierungsdirektor Elmar Groß, Chef des Nürnberger Gefängnisses, und dessen leitende Mitarbeiter. Der Praxis entsprechend, beginnt der Rundgang in der Untersuchungshaftanstalt an der Bärenschanzstraße. Dieses Haus steht „erst“ seit 60 Jahren. Aber es vermittelt dem freiwilligen Gast sofort ein Gefühl dafür, was ihn erwartet, wenn er einmal hier landen sollte. Mehrere Zellen sind geöffnet. Arbeiten muß hier nur, wer noch keine 21 Jahre alt ist. Einige Gefangene sitzen an ihren Tischen und lesen. Andere wollen freiwillig etwas tun, um sich die Wartezeit auf den Prozeß oder auf die Revisionsentscheidung zu verkürzen. Sie machen der Spielzeugstadt Nürnberg Ehre, indem sie aus Kleinteilen Autos mit flinken und geübten Griffen zusammenstecken oder Verpackungsmaterial falzen. Der Staatssekretär hört nur allgemeine Klagen. Er besichtigt den Rohbau für das Untersuchungsgefängnis, durch dessen Tür- und Fensteröffnungen der kalte Herbstwind bläst. Ziel dieses Bauvorhabens: jedem U-Häftling seine Einzelzelle.

In der Schreinerei der Vollzugsanstalt rechnet ein Gefangener dem Gast aus Bonn vor, wie er mit seinen knapp 20 DM, die ihm monatlich zur Verfügung stehen, auskommt. Drei DM gibt er zweckgebunden für Toilettenartikel aus, drei weitere DM ebenso zweckgebunden für den Kauf von Zusatzvitaminen. Er ersteht sich drei Kilo Äpfel, weil er damit den höchstmöglichen Effekt erzielt. Den Rest darf er für Tabak und Kaffee „verprassen“. Zum Essen sagt er, abends sehne er sich nach einem guten Vesper. Nicht verwunderlich, wenn pro Mann und Tag ein Verpflegungsgeld von 1,60 DM angesetzt ist. 50 bis 60 DM, so meint der Häftling, sollte man ihm pro Monat zugestehen. Er würde gerne zu einem regulären Stundenlohn arbeiten und mit seinem Verdienst nach Abzug der „Pensionskosten“ seine Familie ernähren. Das Problem hat sich für diesen Mann gelöst. Seine Frau arbeitet, das Kind ist bei den Schwiegereltern, in 14 Tagen wird er entlassen, und dann darf er wieder bei seinem früheren Chef arbeiten. Er habe es schriftlich, sagt er zuversichtlich. Andere Sorgen hat ein Gefangener, der 33 Monate abzusitzen hat. Die Frau habe die Scheidung eingereicht, gesteht er resignierend. Der Staatssekretär fragt deutlich: „Wie ist es mit einem Kuß beim Besuch?“ „Schon ein bißchen anstrengend“, bedauert der Mann, „die Tische sind so breit.“ „Die Tische werden schmäler, ich habe es schon angeordnet“, tröstet Regierungsdirektor Groß.

Die Schlosserei ist im Souterrain der Anstalt eingerichtet. Die Gänge sind mit Material verstopft, die Arbeitsräume links und rechts gleichen Kasematten. Völlig unzreichend für einen „Großbetrieb“ ist auch die Küche. Es gibt für die gestern gemeldeten 688 Kostgänger Weckschmarren mit Vanillesoße zum Mittagessen. An der Probe ist nichts auszusetzen. Die Soße ist kalt. „Auf Wunsch der Mehrheit“, sagt ein Gefangener. Staatssekretär Bayerl hat vieles gehört. Er weiß, daß die Häftlinge in Nürnberg kaum Sport treiben können, daß sie für jede sinnvolle Hafterleichterung dankbar wären und daß die zufällig Befragten mit guten Vorsätzen in die Gesellschaft zurückkehren wollen. „Vollzugsmuseum“, nennt Frau Seibel die Nürnberger Strafanstalten. Staatssekretär Dr. Bayerl, der schon durch viele bundesdeutsche Gefängnisse gegangen ist, erklärt: „Ich bin beeindruckt von dem guten Klima unter so schlechten Verhältnissen.“ Regierungsdirektor Groß, seit 1. März 1970 mit sichtbarem Erfolg in Nürnberg tätig, gibt den Dank gleich an alle Mitarbeiter weiter.

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