26. Oktober 1970: "Vor Neuwahlen habe ich keine Furcht"

26.10.2020, 09:01 Uhr
26. Oktober 1970:

© Foto: Friedl Ulrich

Verleger Dr. Joseph E. Drexel hieß den Regierungschef herzlich willkommen: „Sie dürfen mir glauben, es ist uns nicht nur eine Freude, sondern auch eine Ehre, Sie bei uns als Gast zu sehen. Es kam sehr selten vor, daß ein Vertreter der bisherigen Regierung uns besucht hat, wenn man zum Beispiel von Bundespräsident Dr. Gustav Heinemann absieht, der während seiner Ministerzeit hier zu Gast war.“ – Das Interview mit dem Kanzler hat folgenden Wortlaut: Herr Bundeskanzler, der CDU-Vorsitzende Kiesinger hat in seiner jüngsten Wahlrede wieder deutliche Anspielungen darauf gemacht, daß es angeblich in der FDP noch eine ganze Reihe von Bundestagsabgeordneten gibt, die mit den wichtigsten Zielen des Kabinetts nicht übereinstimmen.

Brandt: Wenn man das weiterführen wollte, könnte man natürlich auch sagen: Ich weiß, daß es in der CDU/CSU Abgeordnete gibt, die, wenn der deutsch-sowjetische Vertrag zur Ratifizierung ansteht, ihrer Fraktion nicht folgen würden.

Kann es das möglicherweise auch in ihrer Fraktion geben, beispielsweise bei dem Abgeordneten Dr. Hupka?

Brandt: Wir müssen zunächst abwarten, bis diese Dinge entschieden werden. Ich glaube, daß Dr. Hupka dann eine ehrenhafte Haltung einnehmen wird.

Könnten die wiederholten CDU/CSU-Prophezeiungen, Ihr Sturz stünde nahe bevor, nicht die Wirkung haben, daß die Arbeitnehmer mobilisiert werden und verstärkt zu den Urnen gehen?

Brandt: Sie sagen es. In Hessen habe ich gestern schon gespürt, daß in der Arbeitnehmerschaft, vergleichbar mit der Situation vor drei Wochen, ein Mobilisierungseffekt eingetreten ist.

Könnte es bei den FDP-Wählern zu einer Art Trotzaktion kommen, wobei allerdings ungewiß ist, ob sie zu Buche schlägt?

Brandt: Das kann sein.

Betrachten Sie die Landtagswahlen, ähnlich wie die Unionsparteien, als bundespolitische Testwahl?

Brandt: Nur sehr bedingt, denn wir haben verfassungsmäßig festgelegt, wann Bundestagswahlen und wann andere Wahlen sind.

Wenn man die täglichen Meldungen liest, kommt man zu dein Schluß, daß die CDU/CSU Sie, Herr Bundeskanzler, auf unterschiedliche Weise zu stürzen versucht: die eine Gruppe will Neuwahlen, die andere glaubt an den Zuerwerb der FDP-Abgeordneten. Strauß hat in München erklärt, die Unionsparteien würden mit der geringsten Mehrheit regieren wollen. Würde das auch für Sie gelten?

Brandt: Mindestens. Im übrigen leidet die ganze Diskussion um das Problem der Neuwahlen darunter, daß das Grundgesetz kaum bekannt ist.

Gesetzt den Fall, daß der Erosionsprozeß in der FDP weitergeht. Sind dann Neuwahlen fällig?

Brandt: Darauf einzugehen, würde in diesem Augenblick heißen, gegenüber der FDP extrem illoyal zu sein. Diese Partei kann in der gegenwärtigen Situation Neuwahlen nicht wollen. Ich selbst wäre freilich nicht so furchtsam, da soll sich die Union nicht irren.

Am 2. November ist Ihr Außenminister in Warschau, Wie sind die Chancen bei dieser Visite, vor allem im Hinblick auf die noch ungeklärte Grenzformel?

Brandt: Lassen wir die Grenzformel zunächst beiseite. Die Chancen sind recht gut. Weder Außenminister Scheel noch ich hätten sonst gesagt, daß der bevorstehende Besuch zur abschließenden Phase der Verhandlungen zwischen uns und Polen werden könnte. Wir sind zu diesem Ergebnis aufgrund der Vorerörterungen gekommen. Ich will mich aber nicht darauf festlegen, daß Scheel das in einer Woche schafft.

Halten Sie es für möglich, daß Sie mit der Opposition in der Frage des Polen-Vertrages doch noch zu einem Konsensus kommen?

Brandt: Im Polen-Papier der CDU/CSU stehen natürlich viele Dinge drin, zu denen man ja sagen kann. Ich bin nun sehr gespannt, wie man heute entscheiden wird, ob nämlich die Opposition jemand mit nach Warschau schickt.

Bei uns entstand der Eindruck, daß Sie merklich lange gezögert haben, den Dialog mit der Tschechoslowakei aufzunehmen. Woran lag das? Für welchen Zeitpunkt sind die ersten politischen Verhandlungen mit Prag vorgesehen?

Brandt: Die Bundesrepublik hat gewußt, daß die Führung der tschechoslowakischen Republik ihre eigenen Probleme hatte. Deshalb sind wir davon ausgegangen, daß Prag uns wissen lassen würde, wenn man dort glaubt, daß der Zeitpunkt für Verhandlungen reif ist. Ich habe den Eindruck, daß dieser Zeitpunkt relativ nahe liegen könnte. Im übrigen bin ich der Meinung, daß die Probleme, die zu erörtern wären, weniger Schwierigkeiten bereiten, als sie bei den Gesprächen mit der Sowjetunion und Polen aufgetreten waren.

Ist die Denkpause in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR nicht bald zu Ende? Kürzlich hat der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Franke, erklärt, er erwarte ein Signal aus Ostberlin. Gibt es signalähnliche Symptome?

Brandt: Ich bin natürlich nicht glücklich darüber, daß die Unterzeichnung des Moskauer Vertrages bisher, auf die DDR bezogen, noch keinerlei Wirkung gehabt zu haben scheint, aber wir brauchen nicht ungeduldig zu werden, wenn die vier Mächte bei den Berlin-Verhandlungen vorankommen, wird spätestens zu dem Zeitpunkt, da sie bestimmte Ergebnisse erbringen, die Frage aufgeworfen, wie diese Resultate in das hineinpassen, was an Normalisierung zwischen den beiden deutschen Staaten denkbar ist. Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß, wenn weltpolitisch uns nicht etwas in die Bude hagelt, der allgemeine Trend auch in Ostberlin zur Geltung kommt. Das ist vielleicht noch eine Frage von Monaten.

Herr Bundeskanzler, Sie deuteten etwas von weltpolitischen Einflüssen an, die sich nachteilig auf die Entspannungspolitik der Bundesregierung auswirken könnten. Woran dachten Sie dabei in erster Linie?

Brandt: Das ist ein Generalvorbehalt, der Gott sei Dank im Moment weniger aktuell ist, als es noch vor wenigen Wochen zu sein schien. Ich habe am Abend des deutsch-sowjetischen Vertrages in Moskau in engstem Kreise gesagt, daß es Kräfte in der Weltpolitik gibt, die alles durcheinanderbringen und uns schwer zurückwerfen können. Dabei dachte ich zum Beispiel an die Nahostkrise. In den letzten Wochen konnten wir ja beobachten, daß sich etwas zusammenzubrauen schien, Das war wegen der Raketen am Suezkanal, wegen der Kubageschichte und wegen der Sperrung des Luftkorridors nach Berlin für einige Stunden. Diese Phase ist aber schon wieder vorbei. Nach dem, was wir hören, sind die Gespräche Gromykos mit seinen amerikanischen Partnern gar nicht so schlecht verlaufen. Außenminister Ragers hat gestern gesagt, daß er eher eine Entlastung im Verhältnis Washington – Moskau voraussieht. Das sind eben die Konjunkturschwankungen in der Außenpolitik. Ich würde immer einen solchen Generalvorbehalt machen. Wir dürfen nicht glauben, wir seien der Nabel der Weltgeschichte.

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