30. Dezember 1970: Die öffentliche Hand ist fest geschlossen

30.12.2020, 07:18 Uhr
30. Dezember 1970: Die öffentliche Hand ist fest geschlossen

© N. N.

Dort gefiel es dem Grenzjäger so gut, daß er ein Gesuch um Übernahme in den Polizeidienst stellte. Die Antwort wirkte ernüchternd: "Wir bedauern, Sie sind vorbestraft." Seine Dienstpflicht darf ein Vorbestrafter erfüllen, der Zugang zum öffentlichen Dienst bleibt ihm aber versperrt. Dieses Beispiel aus seiner Praxis führte Bewährungshelfer Neumann in einem Round-Table-Gespräch an, zu dem die "Nürnberger Nachrichten" eingeladen hatten. Thema: Wie verhält sich der öffentliche Dienst bei der Resozialisierung Vorbestrafter?

Arbeit – Wohnung – Starthilfe

Die Teilnehmer waren: Oberlandesgerichtspräsident Dr. Max Nüchterlein, die Landtagsabgeordnete Lieselotte Seibel, Regierungsdirektor Elmar Groß von den Nürnberger Strafanstalten und sein Stellvertreter, Regierungsrat Porth, Stadtrat Karl Widmayer, Personalreferent der Stadt Nürnberg, Sozialinspektor Ebert, Fürsorger Banasch, Bewährungshelfer Neumann, Bewährungshelferin Frau Rattel und die NN-Redakteure Norbert Wörner und Wolfgang Doll.

Aus dem Protokoll des zweistündigen Gesprächs haben wir die wichtigsten Punkte herausgegriffen. Oberlandesgerichtspräsident Dr. Max Nüchterlein zur Einführung: "Resozialisierung heißt, den Bestraften in die bürgerliche Gesellschaft eingliedern. Er braucht Arbeit, eine Wohnung und eine Starthilfe. Zu dieser Starthilfe gehören neben gewissen finanziellen Dingen auch Menschen, die bereit sind, sich um entlassene Strafgefangene zu kümmern.

Die Justiz muß Straftaten sühnen und die Gesellschaft vor Verbrechern schützen. Sie sollte aber auch überlegen, daß sie einen zweiten Schritt zu gehen hat. Es ist einfacher, Menschen hinter Gitter zu bringen, als sie, wenn sie hinter Gittern gewesen sind, wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Ich meine, um dieses Ziel sollten sich Justiz und Behörden und alle Menschen kümmern.
Zu unserem Bezirk des Oberlandesgerichts Nürnberg gehören rund 3000 Arbeitnehmer. Auf der einen Seite sind wir Richter, auf der anderen Seite Arbeitgeber, Verwaltungsleute."

Frage: "Wieviele Vorbestrafte sind unter den 3000 Arbeitnehmern?"

Dr. Nüchterlein: "Ich erinnere mich im Augenblick an zwei Fälle. Da ist ein Mann, der macht seinen Dienst besser als andere. Wir hatten auch eine Putzfrau. Die hat ihre Vorstrafe verschwiegen. Als wir dahinterkamen und ihr sagen wollten, daß wir sie trotzdem weiterbeschäftigen wollen, ist sie vermutlich aus Angst einfach weggeblieben."
Wie sieht es in den anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes aus?
Bewährungshelfer Neumann: "Die Unterbringung im öffentlichen Dienst ist natürlich sehr schwierig. Wir sind der Meinung, daß es einfach möglich sein müßte, schüchterne Versuche zu machen. Selbstverständlich wird nicht eine Flut von Strafentlassenen auf Behörden und Dienststellen zukommen, sondern die Vermittlungen werden Einzelfälle bleiben. Es muß eine Auslese sein. Der Bayerische Rundfunk ist mit einem guten Beispiel vorangegangen, er stellte einen Bestraften ein.
Man sollte Jugendlichen, die erstmals mit sechs Monaten bestraft wurden, von Fall zu Fall die Möglichkeit geben, bei der Kommune, bei der Post, bei der Bahn (als Schlosser, als Gärtner, bei der Müllverbrennung usw.) unterzukommen. Es ist natürlich für einen Personalreferenten äußerst schwierig, weil letztlich die Verantwortung auf ihn zukommt und wir von vornherein nicht garantieren können, wie das Experiment verlaufen wird.
Stadtrat Karl Widmayer vertritt bei dem Gespräch den öffentlichen Arbeitgeber allgemein. Seine Meinung zum bisher Gesagten: "Die Schwierigkeiten im öffentlichen Dienst sind gesetzliche und tarifvertragliche Fragen.

Gedanken über Resozialisierung werden von Justizbeamten und MdL L. Seibel ausgesprochen

"Es geht um die Chance der Stunde Null"


Wenn es da heißt, der öffentliche Dienst ist verpflichtet, soweit erkennbar, nur Personen zu beschäftigen, die aller Voraussicht nach bereit sind, alle Pflichten innerhalb und außerhalb des Dienstes zu erfüllen, dann haben wir an und für sich schon sehr enge Festlegungen.
Es ist nicht so, daß es bei der Stadt Nürnberg im Personalkörper keine Straffälligen gibt. Es gibt Leute, die während ihrer Dienstzeit straffällig geworden sind, wo wir uns die Frage stellen: ist das ein Grund zur Entlassung?
Ich bin der Ansicht, daß man den Einzelfall beraten muß. Wenn heute allgemein gesagt würde, wir könnten solche Leute bei der Müllabfuhr beschäftigen, dann würde man, wenn man das generell tut, einen Sturm der Entrüstung in dem Kreis jener Beschäftigten auslösen, die in den sozial niederen Berufen heute noch Dienst leisten."
Sozialinspektor Ebert nimmt Widmayer beim Wort: "Bisher ist der Eindruck entstanden, daß eine Sperre von vornherein da war. Es scheint, daß man jetzt doch bereit ist, bei Einzelfällen, die abgewogen werden, die Tür etwas weiter zu öffnen."
Landtagsabgeordnete Seibel, Gefängnisbeirätin: "Ich sehe immer wieder die großen Schwierigkeiten, die wir beim öffentlichen Dienst haben, nicht nur bei der Kommune, bei sämtlichen Trägern der öffentlichen Hand. Man sollte einem Menschen, der eine Strafe hinter sich und einen bestimmten Akt der Wiedereingliederung erlebt hat, die Chance der Stunde Null geben, ausgehend – was wir heute noch nicht haben – von einer sozialen Prognose des Täters."
Frage: "Ist es nicht möglich, daß jeder Arbeitgeber – analog zum Schwerbeschädigtengesetz – einen gewissen Prozentsatz an Gestrauchelten beschäftigen muß?"
Frau Seibel: "Ein Muß wird man nicht aussprechen können. Aber wenn man auf die Stadt Nürnberg ein moralisches Resozialisierungsmuß errechnet, dann käme man bei 13.000 Beschäftigten auf einen Anteil von 65 Vorbestraften. Es gibt bisher nur Einzelfälle im öffentlichen Dienst, daß jemand wieder in eine Stellung aufgenommen wird.
Was die Wiedereingliederung in die Berufe so kolossal erschwert, ist das Streben der Gesellschaft, nicht mit einem Vorbestraften an einem Arbeitsplatz zu sitzen. Das Sozialprestige scheint da zu leiden. Hier muß man einfach in den Massenmedien den Hebel ansetzen.

Bedenken bei der Industrie

Jeder schiebt die Verantwortung auf den anderen ab. Man hört den Schrei: Straft die Verbrecher. Aber nicht den genau so wichtigen Schrei: Resozialisiert die Gestrauchelten. Jeder Täter wird wieder eine Gefahr für die Öffentlichkeit, wenn es nicht gelungen ist, ihn zu resozialisieren."
Bewährungshelfer Neumann zur Intoleranz und zu Vorurteilen: "Glauben Sie ja nicht, daß es so einfach ist, Vorbestrafte in der Privatindustrie unterzubringen. Auch dort gibt es Bedenken, bei den Personalchefs, bei den Betriebsräten. Aber die private Wirtschaft zeigt mehr Verständnis und sie braucht in Zeiten der Hochkonjunktur alle Leute. Leider kommt es auch hier oft zu Schwierigkeiten, wenn bekannt wird, daß der Neue ein Vorbestrafter ist."

Frage: "Kann der Gesetzgeber in keiner Weise nachhelfen?"
Frau Seibel: "Wir haben schon einmal im Eingabe- und Beschwerdeausschuß zu klären versucht, wieweit wir auf die öffentliche Hand einwirken können. Wir haben bis jetzt nur Empfehlungen verfaßt, weil keine gesetzliche Grundlage für eine Verordnung gegeben ist. Wir können kein Muß daraus machen. Der Einstellung von Straffälligen, die ihre Strafe verbüßt haben, steht im öffentlichen Dienst keine Vorschrift entgegen.

Verwandte Themen


Keine Kommentare