Corona: Wie der digitale Unterricht Ungleichheiten fördert

24.5.2020, 05:14 Uhr
Bundesweit lebt jedes vierte Kind in relativer Armut. Die Eltern sind oft Alleinerziehende oder Geringverdiener, viele haben einen Migrationshintergrund. Sie haben kein Geld für Tablets, Laptops oder einen Drucker.

© Foto: Julian Stratenschulte/dpa Bundesweit lebt jedes vierte Kind in relativer Armut. Die Eltern sind oft Alleinerziehende oder Geringverdiener, viele haben einen Migrationshintergrund. Sie haben kein Geld für Tablets, Laptops oder einen Drucker.

Manche Schüler sind für den digitalen Unterricht schlecht gerüstet. Aufgrund ihrer schwierigen sozialen Verhältnisse verfügen sie nicht über die notwendigen Endgeräte, haben zu Hause nur eine schlechte Internetverbindung oder lediglich ein Prepaid-Handy. Die Politik versucht gegenzusteuern, doch das ist kein leichtes Unterfangen.

Tina Ströbel (Name geändert) ist mit ihren Nerven am Ende. Seit fast sechs Wochen sitzt die alleinerziehende Mutter aus Lauf im Homeoffice. Nebenher beschult die 36-Jährige ihre beiden Kinder Lara (9) und Julian (13). Doch es läuft schlecht, denn die Familie hat nur einen Computer und den braucht die Mutter selbst für die Arbeit als Sachbearbeiterin.

Sohn Julian hält über sein Prepaid-Handy mit seiner Realschule Kontakt. "Letzte Woche hatte ich bloß kein Datenvolumen mehr, da ist mir entgangen, dass wir einen Aufsatz schreiben sollten. Ich war nicht der Einzige", fügt der schlaksige, dunkelhaarige Junge hinzu. Julian hat den Draht zu seiner Schule buchstäblich verloren – und fühlt sich schlecht dabei. Er hofft, dass der Unterricht bald wieder losgeht, denn er hat Angst, zu viel verpasst zu haben.

Ein Antrag läuft

Seiner Mutter ist die Situation der Familie peinlich. Vom Vater der Kinder erhält Tina Ströbel keine Unterstützung, Großeltern gibt es keine mehr. Im Jobcenter hat sie einen Antrag auf einen Computer gestellt, doch bislang noch nicht bewilligt bekommen, in der Schule der Kinder stehen keine Rechner zum Verleih zur Verfügung.


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Solche Familien sind keine Einzelfälle. Bundesweit lebt jedes vierte Kind in relativer Armut. Die Eltern sind oft Alleinerziehende oder Geringverdiener, viele haben einen Migrationshintergrund, sind also per se schon benachteiligt. Sie haben kein Geld für Tablets, Laptops, eine schnelle Internetverbindung, einen Drucker oder ähnliches.

Lehrer haben ganz andere Sorgen

In der aktuellen Krise ist der Zugang zu einem eigenen Computer für den Lernerfolg der Schüler aber enorm wichtig geworden. Wer ihn hat, kommt weiter, wer nicht, verliert den Anschluss. Etwa ein Viertel der Schülerinnen und Schüler wird von der durch Corona ausgelösten Schulsituation abgehängt. Die Lehrer wissen das, doch sie stehen der Situation machtlos gegenüber – und haben im Bezug auf den geteilten und in Schichten ablaufenden Präsenzunterricht ganz andere Sorgen.

Die Politik geht davon aus, dass in fast jedem deutschen Haushalt internetfähige Endgeräte, also Computer, vorhanden sind. Doch dem ist nicht so: Einer aktuellen Studie der Deutschen Wirtschaft zufolge besitzen weniger als die Hälfte der zwölf- bis 14-jährigen Kinder in Deutschland einen eigenen PC, Laptop oder ein Tablet. Viele teilen sich ein Prepaid-Handy mit den Geschwistern. Darüber hinaus haben viele zuhause gar keinen Arbeitsplatz, weil das Raumangebot ihrer Familien sehr begrenzt ist.

Laptop-Unterstützung macht Probleme

Eine Nürnberger Mittelschullehrerin, nennen wir sie Yvonne Meier, denn ihren richtigen Namen möchte sie nicht öffentlich preisgeben, fordert sofortige und vor allem unbürokratische Hilfe für die betroffenen Familien. "Die Kinder mit besonderem Förderbedarf und aus sozial benachteiligten Familien fallen mit den Schulschließungen alle hinten runter", sagt sie.

Das Problem ist bekannt, und Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hatte nach einem Koalitionsbeschluss kürzlich eröffnet, bedürftige Schüler in der Coronakrise mit einem Zuschuss von rund 150 Euro für den Kauf von Laptops oder Tablets unterstützen zu wollen. 500 Millionen Euro stellt der Bund zur Verfügung. Weitere Leistungen sollten aus den Bundesländern selbst kommen, denn Bildung ist bekanntlich Ländersache.

Das führt wiederum dazu, dass jedes Bundesland sein eigenes Süppchen kocht. In Bayern hat das Kultusministerium die Schulen aufgefordert, Schüler aus sozial schwachen Familien mit schuleigenen Geräten auszustatten. 50 000 solcher Geräte stehen dafür bereit, sagt eine Sprecherin des Bildungsministeriums auf Anfrage.

Verteilung noch unklar

Darüber hinaus sollen die Sachaufwandsträger der Schulen, also Landkreise und Kommunen, bestehende Gelder aus dem DigitalPakt Schule abrufen, um es in Endgeräte zu investieren. Wie die Verteilung dieser Gelder genau aussehen wird, ob die Schulen das Geld verwalten oder die Familien einen Zuschuss bekommen, sei allerdings noch unklar, teilt die Ministeriumssprecherin mit.

Thomas Reichert, Direktor des Nürnberger Schulamts, zweifelt an der schnellen Umsetzbarkeit dieser Maßnahmen. Nicht nur, weil er 150 Euro pro Schüler bei der Anschaffung eines Notebooks oder Tablets für zu wenig erachtet. Reichert zweifelt auch daran, dass ausreichend mobile Geräte in den rund 200 Nürnberger Schulen zur Verfügung stehen, um den Bedarf der sozial schwächer gestellten Schülerinnen und Schüler zu decken.

Deutliche Lernrückstände

Die Nachteile der Schüler aus armen Familien potenzieren sich an den Grundschulen-, Mittel- und Realschulen, während die Gymnasien mit ihrer Schülerschaft aus überwiegend bildungsnahen Familien deutlich besser abschneiden. Bildungsexpertinnen wie Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands, gehen davon aus, dass die Schulschließungen bei vielen Kindern zu deutlichen Lernrückständen führen und sich die sozialen Ungleichheiten durch die Coronakrise noch weiter verstärken werden.

Das wichtigste in dieser Situation sei, findet Fleischmann, den Familien Mut zuzusprechen. Auch wenn die Schülerinnen und Schüler durch die Schulschließungen eine Menge Lernstoff verpassten, könnte dieser nachgeholt werden.

Fleischmann macht sich weniger Sorgen um die Ausstattung der Schüler mit Endgeräten für den digitalen Unterricht als über den psychischen Zustand der Kinder und Jugendlichen in dieser Extremsituation. "Schule ist gerade in schwierigen Familienkonstellationen ein stabilisierendes Element. Sie bietet Struktur und ein verlässliches soziales Netz. Das fehlt vielen Kindern gerade, und darüber mache ich mir Sorgen."

Florian Kohl, Personalrat der GEW in Mittelfranken und Experte für das Thema Digitalisierung an den Schulen, betrachtet die gegenwärtige Situation mit gemischten Gefühlen. Die Überlegungen zum digital gesteuerten Unterricht hätten bereits vor Jahren erfolgen können, sagt er. Corona bringe zu Tage, was bis dato verschlafen worden sei.

Der Bayerische Elternverband (BEV) ist indes vorsichtig optimistisch angesichts des Maßnahmenpakets des bayerischen Kultusministeriums. In den vergangenen Wochen hatte der BEV einen Brandbrief an die Behörde verfasst mit der Forderung, dass Schulen endlich eigene mobile Endgeräte an sozial schwächer gestellte Schüler verleihen, damit diese dem digitalen Unterricht folgen können.

Elternverband kann helfen

Viele Eltern seien durch die lange Phase des Fernunterrichts überfordert, betont Henrike Paede, stellvertretende BEV-Vorsitzende. Daher sei es an der Zeit, Hinweise und Standards für das Lernen zuhause aufzustellen, damit Erziehungsberechtigte konkret wissen, worauf sich ihre Aufgabe beschränkt, sagt Paede. Der BEV sei bei so einer Handreichung gern behilflich.

Eine solche Handlungs- und Prioritätsbeschreibung würde auch die Alleinerziehende Tina Ströbel entlasten. "Man fühlt sich mit dieser Verantwortung für die schulischen Leistungen so allein gelassen", sagt sie.


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