Die KZ-Opfer erhalten wenigstens ihre Namen zurück

26.9.2010, 11:23 Uhr

Für Thomas Pauler (Name geändert) ist das Buch ein Tor zur Vergangenheit. Als er im Frühjahr die Gedenkstätte besuchte, schlug er wie viele Besucher das Buch auf und blätterte vor bis P. Er stieß auf den Namen seines Vaters. Es folgte die Recherche eines Lebens, das die Nazis ausgelöscht hatten. Sie hatten Pauler die Identität genommen, ihn zur Nummer gemacht, zu einem Niemand unter Tausenden Niemands, und ihn dann ermordet.

Flossenbürg — rund 100.000 Menschen haben die Nazis hier interniert, jeder Dritte hat die Haft nicht überlebt. Die Todesrate war extrem, höher etwa als im ungleich bekannteren KZ in Dachau. Doch Flossenbürg führte nach dem Krieg ein Schattendasein. Weite Teile der Anlage wurden dem Verfall und dem Vergessen preisgegeben. 79 Außenlager zählte das KZ einst, verstreut über Bayern, Sachsen und Böhmen. Kaum ein Lager ist erhalten; ihre Überreste hat man überbaut oder umgewidmet.

„Die Kleinen sind ohnehin schon verloren“

Seit Jahren sichert die Stiftung Bayerische Gedenkstätten, was noch vorhanden ist. „Wir wollen wenigstens die großen Lager retten“, sagt Karl Freller, Chef der Stiftung und CSU-Politiker im Landtag. „Die Kleinen sind ohnehin schon verloren.“
Das größte Außenlager stand in Hersbruck. Die dort internierten Zwangsarbeiter sollten im nahe gelegenen Happurg ein gigantisches Stollensystem in den Berg schlagen. Heute ist das KZ unter Tennisplätzen und einer Wohnsiedlung verschwunden. „Die Gefahr bestand“, sagt Freller, „dass die Anlage in Vergessenheit gerät.“ Ein Rundgang zeichnet nach, welches Leiden hier einst vorherrschte. Die Info-Tafeln markieren Wachtürme und Appellplatz, SS-Kommandantur und Häftlingsbaracken.


In Hersbruck hatten die Nazis jene Häftlinge eingesperrt, die bei Happurg für das „Doggerwerk“ schuften mussten. Ein Unterfangen, das Tausende nicht überlebten. Auch Paulers Vater musste sich für das verhasste Regime in die Houbirg graben und einen bombensicheren Produktionsort für die Rüstungsindustrie bauen.
Ironie des Schicksals: Die Nazis wollten in den unterirdischen Stollen vor allem Jagdflugzeuge montieren. Pauler hatte Flugzeuge gefertigt, bei Bachmann & Blumenthal in Fürth. Und er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Entwicklung des Düsenjägers Me262 angesichts der drohenden Niederlage für sinnlos hielt. Ein Kollege denunzierte ihn; Pauler kam in ein Gestapo-Gefängnis und dann ins KZ Flossenbürg.

Mehr als 4000 bezahlten den Wahnsinn mit ihrem Leben

Noch immer existiert die riesige Anlage im Berg nahe Happurg. Bis Kriegsende vollendeten die Zwangsarbeiter rund ein Zehntel des Projekts. Mehr als 4000 Menschen haben diesen Wahnsinn mit ihrem Leben bezahlt. Heute sind die Eingänge zubetoniert.
Und Karl Freller überlegt, wie er trotzdem die Erinnerungen wachhalten kann. Der Schwabacher weiß, das er sich auf jenem unsicheren Gelände bewegt, das die Historiker entzweit: „Sie sorgen sich“, sagt Freller, „dass die monströse Dimension dieser Anlage die Besucher eher beeindruckt als abschreckt.“ Wirklich öffnen lässt sich das „Doggerwerk“ nicht. Die Stollen sind nur zum Teil ausbetoniert und der Berg ist brüchig. Denkbar, sagt Freller, sei „eine Außenausstellung vor einem der Eingänge, der den Blick nach innen freigeben könnte. Damit man sich vorstellen kann, was sich da verbirgt“.


Paulers Vater konnte es sich vorstellen; er hatte die brutale Bunkerarbeit überlebt, den Winter im Hersbrucker Lager, die Entbehrungen, Erniedrigungen, den ganzen Alptraum. Dann schickten ihn die Nazis auf den Todesmarsch. Pauler kam bis Neukirchen-Balbini. Am 21. April 1945 ermordeten ihn die Nazis und verscharrten seine Leiche mit 97 anderen auf einer Wiese. 1950, als das Erinnern begann, gruben Fachleute die Toten aus und setzten sie auf dem KZ-Ehrenfriedhof nahe Neunburg vorm Wald bei.
Es ist das Glück von Thomas Pauler, dass es Menschen wie Johannes Ibel gibt. Ibel arbeitet in der Flossenbürger Gedenkstätte; er kennt die Archive und Datenbanken, die über die Welt verstreut sind und das Wissen aus jenen Tagen bewahren. Sie können manchmal den Toten wieder Namen und Gesicht geben. Bei Paulers Vater, erzählt Ibel, half der Zufall. Als Fachleute 1950 die Leichname bargen, fanden sie bei einigen Körpern die Häftlingsnummern. Auch bei Pauler.

Nummern wurden in Büchern verwaltet

Die Nazis hatten die Nummern in Nummernbüchern verwaltet. Die Originale liegen in den USA, in einem Washingtoner Archiv. Ibel verfolgte die Spur von Washington über die israelischen Archive von Yad Vashem bis zurück nach München. Im Schloss Nymphenburg lagern weitgehend unbeachtet bei der Schlösser- und Seenverwaltung die Daten der KZ-Friedhöfe samt der Totenlisten.


Ibel konnte dank der Unterlagen nachvollziehen, wo Paulers Vater gestorben war. Und er fand heraus, wo sein Leichnam liegt. „Das ist ungewöhnlich“, sagt Ibel. „Wir wissen von 5500 Gräbern. Aber wir können nur 1000 Namen zuordnen.“


Für die Angehörigen der meisten Opfer bleibt damit die nagende Ungewissheit über den Verbleib der Toten. Ihnen will Karl Freller wenigstens einen Trost spenden. Wenn für acht Millionen Euro der Ausbau der Gedenkstätte in Flossenbürg ansteht, plant Freller auf dem ehemaligen Appellplatz ein „Archiv der Namen“. Ihm schwebt eine Gedenkwand vor, in der die Namen der Opfer eingemeißelt sind.

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