Die Sinne gut geschult

5.3.2003, 00:00 Uhr
Die Sinne gut geschult

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Denn Einrichtungen wie das Berufsbildungswerk für Hör- und Sprachgeschädigte in Nürnberg (BBW) — eine von nur sieben für diese Behinderungsart in Deutschland — machen Jugendliche fit fürs Berufsleben. Nicht nur im aktuellen „Jahr der Behinderten“.

Die Kommunikation im Zahntechniker-Labor ist außergewöhnlich. Werkstattleiter Werner Hoh beobachtet eine junge Frau, wie sie geschickt mit winzigen Bohrern und feinsten Metallwerkzeugen hantiert. Plötzlich stößt er den Filzstift drei Mal kräftig auf die Arbeitsplatte, unmittelbar vor ihr Gesicht. Jetzt legt Imke (20) das Gebiss-Modell zur Seite und blickt gespannt auf den Mund des Meisters.

„Hast Du die Krone fertig?“, fragt Werner Hoh. Der Satz kommt langsam und deutlich, zudem unterstützt er das Gesagte mit Gebärden. Beim Wort „Krone“ formt Hoh die rechte Hand zu einer Schale und stülpt sie auf den Kopf. Wie eine Krone eben. Symbole und Gesten helfen verstehen.

Imke nickt und langt nach der fertigen Keramik. Die Auszubildende aus Hessen kann auf dem linken Ohr nichts mehr hören, auf dem rechten nur wenig, seit sie mit drei Jahren an Meningitis erkrankt ist. Dafür ist sie mit ihren Händen umso geschickter.

Meisterin im Lippen-Lesen

Das Lippen-Ablesen und die Gebärdensprache sind ihr Verbindungsdraht zu den Menschen. Eine Kunst, in der Imke Meisterin ist. Auch Verena (19) aus Baden-Württemberg hat sie sich aneignen müssen, weil sie durch die Nebenwirkungen einer Impfung ihr Gehör verloren hat.

Ob Zahntechnikerin, Informationstechnik-Systemelektroniker/in, Werkzeugmechaniker/in, Damenschneider/in oder Bürokaufmann/frau: Die Jugendlichen müssen am Ende ihrer mehrjährigen Lehrzeit die gleiche Prüfung ablegen wie ihre „gesunden“ Azubi-Kolleginnen und -Kollegen anderswo. „Sie wollen ja auch das gleiche Geld verdienen“, sagt Zahntechnikermeister Hoh.

Imke ist zuversichtlich, dass sie einen Job bekommt, denn die Arbeit macht ihr Spaß. „Sie ist eine tüchtige Gesellin“, lobt BBW-Direktor Herbert Schmidt. So eingeschränkt ihr Hör- und Sprechvermögen ist, so ausgeprägt sind andere Sinne: Imke und ihre Mitschülerinnen verfügen über ein ausgesprochen gutes Farbgefühl, beste Eigenschaft, um einen Zahnersatz bis in die kleinste Nuance ans „Original“ anzupassen.

Vorbereitung auf die Bewerbung

Wer frühkindlich ertaubt oder „resthörig“ ist wie Miriam aus Nürnberg oder die 21-jährige Nadescha aus St. Petersburg, die nur Geräusche wahrnehmen kann, der „hat nie Sprache gehört, sich nie selbst reden hören“, erläutert Sozialpädagoge Jürgen Walter. Im Berufsbildungswerk Nürnberg für Hör- und Sprachgeschädigte (BBW) bereitet er junge Menschen, die sich in einer der elf Werkstätten ausbilden lassen, auf die Anforderungen der Berufswelt vor. Wie sieht eine Bewerbung aus, wie verhalte ich mich im Einstellungsgespräch, wie reagiere ich gegenüber Kollegen?

Die derzeit 248 Jugendlichen im BBW mit Berufsschule und Internat in der Nürnberger Pommernstraße werden vom Sozialdienst auf solche Situationen vorbereitet. Der Psychologische Fachdienst steht begleitend zur Seite, in der pädagogischen Audiologie trainieren Sprachbehinderte, sich zu artikulieren und zu verstehen.

Jürgen Walter berät Arbeitgeber, die einen Gehörlosen, Schwerhörigen oder einen jungen Menschen mit Sprachbehinderung einstellen möchten, über Zuschüsse und Anforderungen. Im Jahr 2001 etwa fanden 81 Prozent der Schulabgänger eine Anstellung, 2000 waren es 79 Prozent.

An dieser Vermittlungsquote lasse sich die „hohe Kompetenz“ des BBW ablesen, lobt Volker Eck-Kappelmann, Abschnittsleiter der Schwerbehindertenabteilung am Arbeitsamt Nürnberg. Vor allem die Praktika der Auszubildenden in heimischen Betrieben gelten als erfolgreich. Für Behinderte sei die Stellensuche äußerst schwierig geworden, betont der Fachmann. Deshalb nutzt das Arbeitsamt gezielt die Werkstätten und das BBW-Personal mit dem guten Ruf, um auch erwachsene Sprach- und Hörbehinderte weiterzubilden, die sich in die Arbeitswelt integrieren möchten.

Wer dennoch keinen Job findet, wird vom Integrationsfachdienst aufgefangen, mit dem auch das BBW kooperiert: Seit April 2001 bemüht sich die neue regionale Einrichtung im Auftrag des Arbeitsamtes und des Integrationsamtes der Regierung von Mittelfranken um Arbeit für Schwerbehinderte. Sozialpädagogen kümmern sich dort um die Vermittlung — derzeit um rund 250 Männer, Frauen und Jugendliche, mit körperlicher oder psychischer Erkrankung.

Gespräche mit Personalleitern

„Überdurchschnittliche Erfolge“ verbuche man seitdem, sagt Hans Stenz, Leiter des Integrationsamtes in Ansbach. Er wirbt bei Unternehmen um Vertrauen: Er lädt Personalleiter aus der Region ein, um ihnen die Vorzüge Behinderter schmackhaft zu machen. Freilich, räumt Stenz ein, zahle mancher Firmenchef lieber die so genannte Ausgleichsabgabe, anstatt ab einer Betriebsgröße von 20 Mitarbeitern eine entsprechende Zahl Behinderter zu beschäftigten. Den Trend, dass bei steigender Arbeitslosigkeit die Beschäftigungsquote behinderter Menschen sinkt, habe man noch nicht aufhalten können.

Angesichts der Summe von 192 Millionen Euro, die der Bezirk heuer für die Eingliederung Behinderter ausgibt, fordert jetzt Richard Bartsch, Chef der CSU-Bezirkstagsfraktion, die Ausgaben über ein „Bundesleistungsgesetz“ zu regeln. „Bei gleichzeitigem Rückgang der Steuereinnahmen kann dies nicht mehr aus dem Bezirkshaushalt mit Umlageverfahren finanziert werden“, argumentiert er. Die bisherigen Regelungen stammten aus dem Jahr 1961.