Ein letztes Refugium für Demenzkranke

28.12.2012, 00:00 Uhr
Ein letztes Refugium für Demenzkranke

© Triodos

Das ist also das Wunder-Bett. Es ist tatsächlich mehr als eine funktionale Liegefläche, auf der man das absehbare Ende der Lebenszeit erwartet, ausgestattet mit technischem Schnickschnack, der gestressten Pflegerinnen die Arbeit erleichtert. Bettlägrig ist deshalb keine vollständige Beschreibung des Zustands dieser Bewohner. Sie sind eher bettmobil. Dieses Möbel trägt sogar mit dazu bei, den Bewohnern etwas mehr Würde zu verleihen.

Das ausgetüftelte Bett lässt sich zu einem Sessel umbauen und ermöglicht damit die Teilhabe am Geschehen im ganzen Raum. Man kann es aber auch so teilen und verschieben, dass sich zwei Menschen auf Augenhöhe gegenübersitzen. Und es richtet Menschen, soweit es geht, auf. Damit ist nicht nur die körperliche Position gemeint.

Großzügiger Raum

Für Sabine L. Distler hat dieser nüchterne Einrichtungsgegenstand deshalb sogar eine „ethische Komponente“. Er ist weit mehr als ein übliches Hilfsmittelbett. Distler leitet seit 1999 das Senioren- und Pflegeheim Rupprechtstegen in herrschaftlicher Lage an der Pegnitz mit insgesamt 151 Bewohnern. Die ausgeklügelten Betten stehen seit eineinhalb Jahren im vierten Stock, seit Eröffnung der Demenz-WG.

Pflege-Oase nennen Distler und ihre Kollegin Brigitte Schorr, die Pflegedienstleiterin, diese kleine Abteilung des Hauses gar nicht so gerne. „Das klingt so, als gäbe es außerhalb nur Wüste“, sagt die Chefin, „dem ist natürlich nicht so.“ Und mit einem Nagel-Studio soll das auch niemand verwechseln, die nennen sich bekanntlich ebenfalls häufig Pflege-Oase. Der Begriff Refugium ist ihnen lieber. Sechs hochgradig demente Menschen haben hier einen geschützten Zufluchtsort, ein ruhiges Zuhause für ihre innere Welt, in der sie mehr und mehr leben.

Der großzügige Raum ist mit viel moderner Technik ausgestattet. Es gibt eine Lichtanlage, die dem natürlichen Biorhythmus angepasst ist. Auf einer dreimal drei Meter großen Leinwand laufen zur Anregung der Sinne geeignete Filme, Meeresrauschen etwa oder eine Hündin, die sich um ihre Jungen kümmert. Keine raschen Schnitte gibt es da, keine hastigen Szenen. Man kann an den Augen der drei Senioren, die heute an dem großen WG-Tisch sitzen, ablesen, dass sie auf die Stimmungsbilder reagieren. Die anderen schlafen oder schauen aus größerer Entfernung zu.

Nur ganz schwere Fälle bekommen hier einen Platz. Menschen die fast sprachlos geworden sind, die weitgehend abwesend und versunken wirken. Wie lange diese Demenzkranken noch leben, lässt sich schwer sagen. „Das können wenige Monate sein oder ein paar Jahre“, meint Sabine L. Distler, „da gibt es kaum sichere Erkenntnisse.“

Die Betroffenen liegen hier nicht die letzte Phase ihres Lebens in einem Einzelzimmer wie eine unverdiente Strafe ab, hier versucht man, den Bedürfnissen der Schwerkranken möglichst gerecht zu werden. Es ist also keine Palliativ-Station für unheilbar Kranke, auf der die Folgen eines schweren Leidens gelindert werden. Hier verfolgt man das Ziel, den Bewohnern trotz schwerster Einschränkungen so weit es geht einen Lebensraum nach ihren verbliebenen Wünschen zu schaffen.

Die hochmoderne Ausstattung hilft dabei enorm, aber ausschlaggebend sind natürlich vor allem die Pflegerinnen. Vier Kräfte teilen sich die Arbeit in Schichten. Die Frauen in dieser Wohngruppe sind erfahrene und bestens ausgebildete Haushälterinnen, die sich um die Bedürfnisse ihrer Schützlinge kümmern. Mitarbeiter, die jünger als 50 Jahre sind, werden hier gar nicht eingesetzt.

Heute hat Karin David mit am Tisch Platz genommen. Für sie ist das ein traumhafter Arbeitsplatz: „Wir haben Zeit für die Bewohner. Es gibt kein Eilen von Zimmer zu Zimmer, um Patienten zu versorgen. Alle sind mittendrin.“ Die Frühstückszeit ist festgelegt, wenn aber ein Bewohner mal etwas länger schläft, wird er halt später gefüttert. Auch diese Rücksichtnahme ermöglicht das Konzept des Refugiums.

Mahnung zur Vorsicht

Irritierend kann man den Umstand empfinden, dass die sechs Betten nur durch lange Vorhänge voneinander getrennt sind. Kritiker solcher Pflege-Oasen sprechen deshalb von einer Rückkehr zu Mehrbett-Zimmern aus überholten Zeiten. Und auch Sabine L. Distler kennt Einrichtungen, die sich Pflege-Oase nennen, obwohl dort mehr oder weniger nur einige Betten zusammengestellt werden. Sie mahnt dennoch zur Vorsicht. Zum einen werden die Bewohner des Rupprechtstegener Refugiums sorgfältig ausgewählt. Sie müssen mindestens sechs Monate schon im Zentrum gelebt haben, bevor sie in den vierten Stock umziehen dürfen. Dann können Distler und ihre Kolleginnen einschätzen, ob jemand Geselligkeit liebt, oder ob ihn die Gegenwart anderer Leute eher nervt. Das ist das eine. Zum anderen wissen sie, dass der Wunsch nach Gemeinschaft und Austausch bei Dementen meist wächst.

Das haben zum Beispiel Waltraud und Ferdinand Hofmann aus Lauf erfahren. Ihre heute 90-jährige Tante lebt seit etlichen Monaten hier.

Mit Engelsgeduld

„Sie war lange Zeit allein in ihrer Wohnung“, erzählt Waltraud Hofmann, „ein Heim war für sie immer der Horror.“ Aber in den eigenen vier Wänden ging es einfach nicht mehr. Die Verwandten schafften es mit Engelsgeduld und Überredungskünsten, sie zu einem Umzug nach Rupprechtstegen zu bewegen. „Sie wollte dort dann unbedingt ein Doppelzimmer. Das hat uns sehr gewundert.“ Als sich der Zustand der Tante rapide verschlechterte, zog sie schließlich in den vierten Stock.

Das Laufer Ehepaar erlebt das als großen Glücksfall. „Meine Tante erkennt mich wieder seit sie hier oben ist“, sagt Waltraud Hofmann voller Freude. Und das alte Häuschen, in dem die Tante Jahrzehnte verbrachte, und aus dem sie nie wegwollte, hat die 90-Jährige noch nie vermisst. Für ihre Verhältnisse ist sie gut drauf.

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