Einst 300 Kilo schwer: Fränkin kämpft für leichteres Leben

18.11.2019, 05:58 Uhr
Einst 300 Kilo schwer: Fränkin kämpft für leichteres Leben

© Foto: André Ammer

Nein, Anja Kortegaß hat kein Problem damit, dass ihr wirklicher Name nun einer breiten Öffentlichkeit bekannt wird. Sie versteckt sich nicht und lässt sich auch bereitwillig fotografieren. Die junge Frau, die zeitweise einen Body-Mass-Index von über 90 (Übergewicht beginnt bei einem BMI von 25) hatte, macht ihre Geschichte bewusst öffentlich. Im Idealfall könne sie damit andere Betroffene vor einem Schicksal wie dem ihren bewahren, hofft sie.

So offen war Kortegaß nicht immer. Früher hätte sich die heute 30- Jährige am liebsten unsichtbar gemacht, etwa als sie auf dem Weg zur Schule durch den Nürnberger Hauptbahnhof laufen musste. Stets den Kopf gesenkt, um niemandem in die Augen schauen zu müssen, "und im Tunnel immer ganz am Rand und mit einer Hand an der Wand". Später sei sie permanent in Verteidigungsstellung gewesen. "Ich habe jeden angefahren, wenn ich den – oft auch falschen – Eindruck hatte, der redet oder lacht über mich."


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Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Während der Pubertät manifestierte sich eine Insulinresistenz bei dem Mädchen, das zwar nie gertenschlank, bis zu diesem Zeitpunkt aber auch nicht auffällig übergewichtig war. Aufgrund der chronischen Stoffwechselstörung können ihre Körperzellen Glucose nicht so gut aufnehmen wie der Organismus von gesunden Menschen. Obwohl sich die Jugendliche sehr bewusst ernährte, nahm sie immer mehr zu.

Fertiggerichte waren stets tabu

Dass sie um Fast Food, zuckerreiche Softdrinks und Süßigkeiten fast immer einen Bogen machte, glaubte ihr aber niemand. Sie solle sich halt nicht mehrmals pro Woche bei McDonalds vollstopfen, sagte einmal ein Arzt zu ihr. "Dabei gab bei uns zu Hause nie irgendwelche Fertiggerichte, sondern immer viel Gemüse und Obst. Ich glaube, ich habe in meinem Leben nur ein einziges Mal eine Tiefkühlpizza gegessen", erzählt die junge Frau aus dem Nürnberger Land. Ihre Mutter sei gegen zahlreiche künstliche Inhaltsstoffe wie Geschmacksverstärker allergisch und habe deshalb stets mit frischen und gesunden Zutaten gekocht.

Zwischendurch war Essen allerdings durchaus ein Trost für Anja Kortegaß. Als sie elf Jahre alt war, starb ihr Vater während einer schweren Herzoperation, und das verstörte Mädchen dämpft seine Trauer mit Süßigkeiten. "Aber das war nur hin und wieder eine Tafel Schokolade", beteuert die 30-Jährige. Davon allein konnte die enorme Gewichtszunahme nicht kommen, doch trotz einer wahren Odyssee durch die Praxen von Allgemein- und Fachärzten kam niemand auf die tatsächliche Ursache.

Als Kortegaß in der neunten Klasse das Gymnasium verließ und nach der mittleren Reife für ein Jahr in ein Rehazentrum für adipöse Jugendliche kam, brachte sie bereits 180 Kilo auf die Waage. Nachhaltig geholfen wurde ihr in der Einrichtung bei Berchtesgaden nicht, denn der einzige Therapieansatz dort sei zusätzliche Bewegung gewesen. "Jeden Tag sind wir den Watzmann rauf und runter. Es war strunzlangweilig", erinnert sich die junge Frau.

Besonders habe sie irritiert, dass das Personal dort wenig Wert auf eine Ernährungsumstellung der Jugendlichen legte. "Da gab es Lasagne mit ordentlich Käse und Bechamelsauce und zwischendurch Kakao, für den Nutella in die Milch gerührt wurde", erzählt Kortegaß. Während ihrer Zeit in dem Rehazentrum speckte sie zwar 40 Kilo ab, zuhause schlug aber der Jojo-Effekt mit aller Macht zu. Während ihr Gewicht die 200-Kilo-Marke durchbrach, ging die Heranwachsende auf die Fachoberschule, absolvierte nach dem Abschluss eine Ausbildung zur Erzieherin, sattelte dann aber um auf medizinisch-technische Laboratoriumsassistentin.

Viele Mitschüler mobbten sie permanent

"Ich wollte weg von den Menschen. Im Labor hat man wenigstens seine Ruhe", erzählt Anja Kortegaß, die viele Male seelisch verletzt wurde. Etwa kurz nach dem Verlust ihres Vaters, als Mitschüler den Tisch der Halbwaise mit Kopien der Todesanzeige beklebten. Später drückten ihre Peiniger Zigarettenkippen auf dem Körper ihres traumatisierten Opfers aus. Noch heute sind auf Kortegaß‘ Unterarmen Spuren dieser Folter zu sehen. Der Mutter erzählte das Einzelkind nichts von den Mobbingattacken. "Damit wollte ich sie nicht auch noch belasten."

Nun aber geht sie offensiv mit ihrem Schicksal um, lässt sich nicht mehr auf ihr Dicksein reduzieren. "Wer so aussieht wie ich, dem wird automatisch Undiszipliniertheit und Dummheit unterstellt", klagt die eloquente junge Frau, die inzwischen Psychologie studiert. Oft schwingen sich wildfremde Menschen zum Richter über sie auf, kommentieren ungefragt ihre Speisenwahl im Restaurant oder den Inhalt ihres Einkaufswagens im Supermarkt.

Vor drei Jahren geheiratet

Inzwischen hat sie eine starke und verständnisvolle Stütze an ihrer Seite. 2016 heiratete sie, ihren Mann hatte sie im Internet kennengelernt. "Nach zehn Minuten Chatten haben wir acht Stunden nonstop telefoniert", erinnert sich Anja Kortegaß. Was das äußere Erscheinungsbild betrifft – "da haben wir uns am Anfang die Hucke vollgelogen". Sie habe sich als "90-60-90-Schönheit" beschrieben, "er als eine Mischung aus Bruce Willis und Vin Diesel".

Als die Verliebten irgendwann mit der Wahrheit rausrückten und sich Fotos mailten, hätten sie beide schallend gelacht, erzählt Kortegaß, die seit einem Dreivierteljahr endlich weiß, was in ihrem Körper falsch läuft. Ein Endokrinologe diagnostizierte die erwähnte Insulinresistenz, im Oktober verkleinerten Spezialisten am Uniklinikum Erlangen Kortegaß‘ Magen um etwa 90 Prozent.

Rund 50 Kilogramm hat sie in den vergangenen fünf Wochen verloren und fühlt sich trotz der damit verbundenen hormonellen Umstellung ("Abends friert es mich so, dass ich gleich zwei dicke Decken brauche") relativ wohl. Ihre Blutwerte seien "tipptopp", und Kortegaß hofft, dass sie in ein bis zwei Jahren ihr Wunschgewicht zwischen 80 und 100 Kilogramm erreicht. Später seien noch plastische Operationen nötig, um überschüssige Hautabschnitte zu entfernen, und eines Tages soll dann ein lang gehegter Traum wahr werden: "Im Dirndl und mit meinem Mann an der Seite aufs Volksfest gehen."

 

 

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