"Augenwischerei": Beschäftigungsboom in Erlangen

16.11.2014, 16:50 Uhr

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Manchmal muss man genau hingucken, vor allem, wenn es um Statistiken geht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat die ihm nahestehende Hans-Böckler-Stiftung daher gebeten die Beschäftigungsverhältnisse im Großraum Erlangen richtig unter die Lupe zu nehmen. Die Ergebnisse, die der DGB nun präsentierte, sind ernüchternd: Minijobs, Werkverträge, Teilzeitjobs und befristete Arbeitsverhältnisse (atypische Beschäftigung) nehmen auch in Erlangen und Erlangen-Höchstadt dramatisch zu.

„Wir stellen im bundesweiten Trend keine Ausnahme dar“, sagt denn auch Wolfgang Niclas, der DGB-Chef für Erlangen und Erlangen-Höchstadt. Man sehe in immer mehr Betrieben, wie mit Beschäftigten umgegangen werde und Praktikanten oder Mitarbeiter von Subunternehmen behandelt würden.

Studenten mit eigenem Status

Noch, räumt der Gewerkschafter ein, gebe es in und um die Hugenottenstadt eine „gute Arbeitssituation“. Aber die Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen sei beunruhigend. Sie treibe die soziale Spaltung voran. „In Erlangen gibt es einerseits Arbeitslose und Niedriglöhner, die sehr wenig haben, und andererseits Angestellte, die sehr gut verdienen; die Schere zwischen Arm und Reich ist bei uns größer als woanders.“

Dass dieser Gegensatz womöglich noch krasser werden könnte, lassen die Zahlen befürchten. Zwischen 2003 und 2013 ist in der Stadt Erlangen der prozentuale Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse von 28 auf 37,7 Prozent gestiegen. Auf 1000 Einwohner kommen somit 370 in einem prekären Arbeitsverhältnis. Die Zahl der Minijobs hat sich seit 2003 mehr als verdoppelt. Da Studenten einen eigenen Status haben und in der DGB-Studie extra aufgelistet werden, können sie den drastischen Anstieg von Minijobs in der Universitätsstadt nicht erklären. Vielmehr würden unter anderem in der Gastronomie, aber auch in Altenheimen und Krankenhäusern die Zahl der Niedriglöhner zunehmen. Oft ließen die Arbeitgeber in den betroffenen Unternehmen keine Betriebsräte zu, so dass es keine verlässlichen Daten über Werksverträge oder Leiharbeit gebe. „Die reine Zahl der Beschäftigungsverhältnisse ist für Erlangen irreführend“, betont DGB-Chef Niclas, „es gab zwar 2013 mehr als 102 000 Stellen, aber viele hatten zwei oder drei Jobs“. In der Statistik aber würden dann drei Stellen auftauchen, aber nirgendwo stehen, dass es sich nur um eine Person handelt.

Selbst in den großen, führenden Unternehmen — wie Siemens — nehmen trotz nach wie vor überwiegend positiver Arbeitsbedingungen Werkverträge, Leiharbeit und Ausgliederungen zu, ergänzt der DGB-Vorsitzende für Mittelfranken, Stephan Doll. Doch mehr Sorgen bereiten den Arbeitnehmervertretern kleinere Unternehmen, die von vornherein aus der Tarifbindung ausscheren oder neue Mitarbeiter einfach zu schlechteren Konditionen einstellen.

Kommunen müssen zahlen

Im Vorzeige-Landkreis Erlangen-Höchstadt (Arbeitslosenquote um die zwei Prozent, bundesweit zweitniedrigste Pro-Kopf-Verschuldung) sieht es bei näherem Hinsehen nicht viel anders aus. Auch dort ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gewachsen, was jedoch an einem enormen Anstieg von Teilzeitarbeitsplätzen liegt. Dieser hat sich verdoppelt. Der prozentuale Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse stieg sogar von 27,4 auf 36,2 Prozent. Anders ausgedrückt: Unter 1000 Einwohnern des Kreises sind 148 Menschen in atypischer Beschäftigung.

Die Folge dieser Entwicklungen: Immer mehr Menschen können von ihrem Einkommen nicht leben und sind auf staatliche Hilfen angewiesen. So hat die Stadt Erlangen 2012 Niedriglöhner mit fast zwei Millionen Euro unter die Arme greifen müssen. Im Landkreis waren es 770 000 Euro.

Noch sei der Blick auf das Gebiet rund um die Siemens-Stadt verstellt, betonen die DGB-Chefs. Das soll sich nicht nur mit der ausgewerteten Statistik ändern. Im Januar startet eine Kampagne für den Mindestlohn und gegen Dumping Löhne — auch in Erlangen und Erlangen-Höchstadt.

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