Wie der HCE Flensburg besiegte

Das Geheimnis der Pokalsensation

8.10.2021, 16:30 Uhr
Das Geheimnis der Pokalsensation

© Foto: Oliver Gold/Zink

Als die letzten Sekunden von der Uhr liefen und es längst niemanden mehr auf den Sitzen hielt, als die Menschen angefangen hatten zu klatschen, einfach, weil es viel zu aufregend war, einfach nur dazustehen. Als sich – ganz, ganz sicher – nur diejenigen wie früher glücklich in den Armen lagen, die aus einem Haushalt in die Arena gefahren waren, da verstand man, dass an diesem Tag wirklich alles anders war.


„Der HC Erlangen schrieb am Mittwochabend Vereinsgeschichte“, schickte der Verein um 23.24 Uhr aufgeregt eine Pressemitteilung in die Mailpostfächer und meinte jenes . Dabei war es so viel, viel mehr als nur das.
Rein sportlich, da war es eine Sensation gewesen gegen den Meister von 2018 und 2019, den Champions-League-Sieger von 2014. Schon wenige Wochen vorher in der „Hölle Nord“, wie sie die Halle in Flensburg nennen, weil sie an manchen Tagen so laut sein kann, dass manche an einen Orkan denken, der von der Nordsee herüber zieht, hatte sie sich erstmals angekündigt. Erlangen hatte nach Spielschluss noch einen Freiwurf zum Ausgleich verwandelt. Wie ein Lichtschalter hatte dieser Treffer die Hölle einfach ausgeknipst. Wie still doch 2000 Zuschauer sein können - mehr hatten nicht kommen dürfen, auch im Norden ist Pandemie.

Wie laut doch 1850 Menschen sein können

Noch einmal weniger, 1850 Menschen, waren es am Mittwochabend in Nürnberg gewesen. Diesmal dachte man sich: Wie laut können doch 1850 Menschen sein. Menschen, die nun von sich sagen können, dass sie dabei waren, als es der HC Erlangen zum zweiten Mal unter die letzten 16 Mannschaften im Pokal schaffte, die sich Hoffnungen machen dürfen auf ein dann wirklich überwältigendes Kapitel Vereinsgeschichte.
Doch es gibt trotz allem noch ein viel größeres Kapitel, das dieser regnerische Mittwochabend am Kurt-Leucht-Weg schrieb. 1850 eigene Geschichten, genau genommen, die von Verzicht erzählen, von Angst vielleicht, manchmal gar von Verlust – und alle von Rückkehr. Der Rückkehr zu einer ganz neuen Normalität.

Einer Normalität, die alles ist, nur das nicht: normal. Zu voll ist sie aufgeladen durch die Tatsache, wie viel derzeit und in den vergangenen 19 Monaten nicht mehr normal gewesen ist. Und die nicht etwa schleichend kam oder fast unbemerkt. Sondern die brüllend laut einzog, herrlich schrill, wunderbar krachend.

Ein Blick in die Gesichter

Um zu verstehen, was das konkret bedeutet, dafür reichte ein Blick in die Gesichter. In das der freundlichen Dame am Eingang, die die Eintrittskarten kontrolliert. Die man diesmal aber beobachten konnte, wie sie die Faust ballte bei jedem Torerfolg, wie sie aufgeregt zwei Treppenstufen hinauf- und hinabstieg, immer wieder, als die Schlussphase einbrach und die Mannschaft auf der Zielgraden zur Sensation alles durfte – nur nicht mehr stolpern. Und wie sie, als es geschafft war, voller Glück lächelte.

Man sah es in den Gesichtern derjenigen, die immer schon da waren, wenn in Erlangen Handball gespielt wird und deren Haare grau geworden sind. Die erlebt haben, wie der Erlanger Handball aus so vielem herausgewachsen ist, was ihn einmal ausgemacht hatte: aus den Studenten mit den Samba-Trommeln etwa, aus den heißen Stadtderbys, aus der engen Eurohalle oder dem Kuchenverkauf der Spielermütter.

E-Jugend in der Loschgeschule

Man konnte es auch in den Gesichtern der Kinder sehen mit ihren großen Augen in den noch größeren Trikots, auf dem Rücken den Schriftzug „Steinert“, „Bissel“ oder „Büdel“. Im Gesicht des Aufsichtsratsvorsitzenden, ganz vorn in der Reihe stand er, wie er immer wieder ungläubig den Kopf schüttelte, weil er es nicht fassen konnte, was da soeben geschehen war. Und auch in den Gesichtern von Niko Büdel und Christoph Steinert selbst, von Christopher Bissel, der als Bub Fußball in Erlangen-Bruck spielte und dann erstmals E-Jugend-Handball für den HCE in der Loschgeschule, von Johannes Sellin oder Klemen Ferlin, diesem unglaublichen Torwart, der so viel schon gesehen hat, aber nun in Erlangen, so scheint es, ein besonderes Glück gefunden hat.

"Hundert Prozent anders“, erzählte Steinert viel später – er musste lächeln dabei, es ging nicht anders – habe sich dieses Handballspiel angefühlt. Nicht, weil der Gegner so groß war und ihre eigene Leistung so übergroß an diesem Abend. Nein, „sondern weil man eineinhalb Jahre zuvor ja immer nur die Augen sehen konnte.“

Neuer Geist weht durch die Halle

Immer wieder, verriet Steinert, mit neun Toren erfolgreichster Erlanger des Abends, habe er vom Spielfeld aus auf die Tribünen geguckt und sich gefragt, woher dieser neue Geist kam, der da durch die Halle wehte. Was dafür sorgte, dass sich 1850 Menschen anhörten wie 5850. Woher diese Energie nur kam, die die Mannschaft auf ihren Rücken hob und auch dann noch nicht wieder herunterließ, als sie längst über der Ziellinie war. „Man konnte wieder all die Gesichter sehen“, sagt Steinert, habe er als Antwort gefunden. „Ich habe zuvor gar nicht gewusst, wie wichtig Mimik sein kann.“

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