Ganz nah am Ohr: In Erlangen spricht Lyrik aus dem Gerät

3.3.2021, 10:30 Uhr
Ganz nah am Ohr: In Erlangen spricht Lyrik aus dem Gerät

© Harald Hofmann

Klingelt das Telefon mit einer nicht vertrauten Nummer, dann handelt es sich mit tödlicher Sicherheit um a) eine Meinungsumfrage, b) den Bettelanruf eines angeblichen Verwandten oder c) um die angebliche Preisverleihung in einem Gewinnspiel, an dessen Teilnahme man sich gerade nicht erinnert. Wie ganz anders, wie viel schöner ist es doch, wenn stattdessen eine freundliche Stimme im Schweizer Dialekt das Ohr umschmeichelt, und zwar mit folgenden Worten: "Grüß Gott, Frau Meier, hier kommt Ihr literarischer Lieferdienst. Ich liefere Ihnen heute Ihr literarisches Überraschungspäckchen!"

Keine Sorge, dies ist kein Überraschungsanruf aus heiterem Himmel, sondern mit Vorankündigung. Meist bestellen die Angerufenen selbst. Oder gute Freunde haben ihn geordert, zwecks Aufmunterung oder als Geburtstagspräsent. Hinter dem literarischen Lieferdienst steht die Schauspielerin Lea Schmocker. Die gebürtige Baslerin, Jahrgang 1963, wohnt seit zwanzig Jahren in Erlangen, hat hier am Theater gearbeitet und ist seit zehn Jahren freiberuflich tätig. Und wie das mit der Pandemie so ist – Not macht erfinderisch. "Wobei die Idee mir nicht von alleine gekommen ist", gesteht Lea Schmocker, "ich habe das in Paris gesehen, da haben Schauspieler der Comedie Francaise Leute am Telefon mit Prosatexten und Gedichten bei Laune gehalten."

"Bei Anruf Wort" lautet Schmockers Programm, frei nach dem Hitchcock-Klassiker "Bei Anruf Mord". Dabei handelt es sich um eine literarische Hausapotheke für betrübte Seelen. Diese Apotheke umfasst sechs Päckchen: das "Trostpflaster" zum Aufmuntern, "Liebesseufzer" für hormonell Unausgeglichene, den "Balladen-Born" für die klassisch Gebildeten, "Dada Bubu" für Dadaisten und Experimentierfreudige, ein viertes hält Tiergeschichten bereit, und schließlich das "Überraschungspaket", eine Mischung aus allen Genannten.

Tiefsinn und Humorvolles

Jede Packung wird in einer Mischung aus Prosa und Lyrik fein aufeinander abgestimmt. Tiefsinn ist ebenso dabei wie Humorvolles. "Aber nicht zuviel Tiefsinn, ich will die Zuhörer ja nicht deprimieren." Jede Lesung am Telefon dauert fünfzehn bis zwanzig Minuten, dazu kommen ein paar einführende Worte und ein kleines Nachgespräch. "Das ist mir ganz wichtig", betont Lea Schmocker, "ich sehe die Gesichter ja nicht, ich bekomme die Reaktion nicht unmittelbar mit. Manchmal frage ich mittendrin ,Hallo, sind Sie noch dran?‘. Deshalb flechte ich immer ein paar lustige Bemerkungen in meinen Vortrag mit ein, das Kichern und Glucksen am anderen Ende der Leitung gibt mir dann Gewissheit."

Wer nimmt den literarischen Telefondienst in Anspruch? "Zum größten Teil Frauen. Die kontaktieren mich für sich selbst oder geben Aufträge für Bekannte. Mein erster Mann am Telefon wusste gar nicht so genau, was ihn da erwartet, er knurrte nur ,Ich hasse Gedichte!‘ Da musste ich schnell improvisieren und umdisponieren auf Prosa. Das kam dann an."

Ganz nah am Ohr: In Erlangen spricht Lyrik aus dem Gerät

© Reinhard Kalb

Die meistverlangten Päckchen sind das "Trostpflaster" und das "Überraschungspaket". Letzteres, "weil die Leute sich nicht entscheiden können, also probieren sie von jedem etwas." Gar nicht verlangt hingegen wurde bislang der "Balladen Born". Unfassbar! Wer je mit dem "Ewigen Brunnen" aufgewachsen ist, aus dem schon unsere Großeltern schöpften, dem stehen die "Kraniche des Ibykus" so leibhaftig vor Augen wie der angesprochene Timotheus, der wirft im Geiste seiner hochnäsigen Freundin den schillerschen Handschuh ins Gesicht – "Den Dank, Dame, begehr’ ich nicht" – , der sieht in jedem Nebelstreif den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif, und leert mit dem "König von Thule" den Becher seiner Buhle.

Poetische Aufmunterung

Die Aktion startete am 5. Februar. Seitdem sitzt Lea Schmocker jeden Freitag von 10 bis 12 Uhr und von 17 bis 20 Uhr mit dem Headset am Telefon und verteilt poetische Aufmunterung. "Der weiteste Anruf ging nach Chicago", erzählt sie, "Gottseidank haben die mich angerufen, sonst wäre es teuer geworden. Ansonsten kommen die Aufträge bayernweit und sehr oft über Handy. Dabei spreche ich nicht nur zu einem Menschen, sondern oft zu ganzen Familien, die ihr Telefon auf Lautsprecher umstellen."

Warum gerade Telefon? Warum nicht visuell über den Computerschirm? "Eben genau deshalb, weil die Stimmung am Telefon eine ganz andere ist", erklärt die Vorleserin mit Nachdruck. "Viel intimer. Wir sind zu zweit, nur du und ich. Am Computerschirm sehen sich die Leute sowieso schon, per Home Office. Da hat sich der Gewöhnungseffekt längst eingestellt. Die Atmosphäre am Telefon ist ganz anders. Nichts lenkt dich ab, die Leute sitzen oder liegen ganz entspannt im Sessel, auf der Couch oder im Bett und hören mir zu."

"Ein Überraschungseffekt"

Nun kann man ja schöne Literatur auch zu Hause in Ruhe lesen. "Ja, aber es macht nochmal einen Unterschied, ob ich selber lese oder vorgelesen bekomme", erklärt Lea Schmocker. "Zuerst einmal ist da der Überraschungseffekt: Seinen Lesestoff wählt man selbst aus, der Zuhörer lässt sich überraschen. Manches kennt er gar nicht, manches erkennt er wieder. Und dann dieses Wiedererkennen nach vielen Jahren – ja, das ist wie ein Geschenk. Das baut die Leute auf."

Nächster freier Termin ist am Freitag, 5. März. Die Anmeldung ist per E-Mail an lalalea@web.de möglich (Betreff: Bei Anruf Wort unter Angabe des Wunschpakets und des Wunschtelefontermins. Lea Schmocker wird sich alsbald melden, um den Termin klarzumachen).

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