Geflügelschlachterei in der «Guten Stube»

20.6.2009, 00:00 Uhr
Geflügelschlachterei in der «Guten Stube»

© Manuela Meyer

Gertrud Milch war 14 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern von Heidelberg aus nach Erlangen zog. Ihr Vater war Architekt und gemeinsam mit Johann Heinlein hat er in Erlangen Wohnhäuser gebaut. Unter anderem auch jenes in der Spardorfer Straße, in das die Familie dann zog. «Meine Mutter war damals furchtbar unglücklich, weil alles noch Baustelle war», erinnert sich die 84-Jährige. «Wir hatten ein Klavier und statt einer richtigen Treppe hat es nur eine Nottreppe gegeben. Unser Klavier hätten wir fast nicht in die Wohnung bekommen.»

105 Reichsmark Miete hat die Wohnung damals im Monat gekostet. Mit drei Geschwistern und ihren Eltern hat Gertrud Mehl damals in den fünf Zimmern gelebt. Eng, aber bei weitem nicht so eng, wie nach dem Krieg. «Bis zu 17 Personen haben 1946 hier gehaust. Und das bei einer Küche und einem Klo», schüttelt es die resolute Dame noch heute.

Für damalige Verhältnisse war das Drei-Parteien-Haus Ende der 30er Jahre mit Etagenheizung und Gasherd geradezu luxuriös ausgestattet. Doch das hatte ein paar Jahre später auch Nachteile: «Als es im Krieg und danach kein Gas gab, mussten wir uns anderweitig behelfen. Zum Glück war unsere Mutter so klug gewesen und hatte auf einen Beistellherd in der Küche bestanden. Den konnten wir auch in Notzeiten mit Holz und Kiefernzapfen heizen.»

In den vergangenen 70 Jahren hat Gertrud Milch nur für wenige Monate nicht in der Wohnung gelebt: Gleich nach dem Krieg war das, als die Amerikaner die Wohnung kurzerhand beschlagnahmt hatten. «Die haben teilweise wie die Vandalen gehaust, haben sogar Hühner in der Wohnung geschlachtet.» Nur zum Essen kochen durfte die Familie ein paar Stunden täglich in ihre Wohnung. Doch nach einigen Monaten war der Spuk vorbei. Zwar hatten sie noch keine Genehmigung von den Besatzern, aber als ihre Wohnung kurzfristig leer stand, hat die Familie kurzerhand beschlossen, zurückzukehren.

Nachbar mäht Rasen

Verheiratet war Gertrud Milch nie, bis vor sechs Jahren wohnte sie mit ihrer Schwester in der elterlichen Wohnung, mittlerweile ist sie alleine. Mit den anderen Mietern versteht sie sich blendend. Der junge Mann aus dem oberen Stockwerk mäht ihr sogar den Rasen. Nur ihre Blumen, unter anderem den Rosenstock, der so lange hier lebt wie sie, pflegt die rüstige Dame mit dem festen Händedruck selbst.

Viel ist in den vergangenen 70 Jahren an der Wohnung nicht verändert worden. Neue Fenster vielleicht und die Heizungsanlage. Aber die Holzdielenböden, die geätzten Glasscheiben in den Zwischentüren und die elfenbeinfarbenen Fliesen im Bad, sie stammen alle noch aus den 30er Jahren. Genauso wie die Badewanne. «In der haben schon die Amis gebadet», sagt die Mieterin nicht ohne Stolz.

«In der Wohnung wäre sicherlich eine Generalsanierung nötig. Doch dann müsste Frau Milch zumindest kurzfristig ausziehen. Und das wollen wir ihr nicht zumuten», erklärt Matthias Heinlein. Rund 450 Wohnungen besitzt seine Firma, diese in der Spardorfer Straße ist eine der letzten noch unsanierten.

«Herr Heinlein, Sie bringen mich hier nicht raus», ruft Gertrud Milch ihrem Vermieter zu. Doch der winkt nur lachend ab: « Ich habe auch gar nicht die Absicht.»