Kolumne: Es hat Eis in Erlangen

16.2.2021, 18:22 Uhr
Er führte den Puck mit seinem langen Holzschläger übers Eis, und wenn wir Glück hatten, schien dazu die Sonne vom Winterhimmel und ließ mich blinzeln, wenn ich meine Augen irgendwann wieder öffnete.

© Ron Hübner Er führte den Puck mit seinem langen Holzschläger übers Eis, und wenn wir Glück hatten, schien dazu die Sonne vom Winterhimmel und ließ mich blinzeln, wenn ich meine Augen irgendwann wieder öffnete.

Ich zählte die Tage rückwärts, wie oft ich noch schlafen müsste, bis Papa und ich endlich über das zugefrorene Wasser laufen würden. Er trug wie immer seine Jeans, die alte, blaue Winterjacke, durch die an dünn gewordenen Stellen schon weiße Daunen spitzten, und seine Bommelmütze. Papa trug nie Handschuhe, was mich furchtbar beeindruckte — waren meine kleinen Hände trotz der gestrickten Fäustlinge doch nach kurzer Zeit schon so kalt, dass jede Bewegung schmerzte.

Wir liefen gemeinsam den verschneiten Pfad hinunter, den so viele Kinderschuhe platt getreten hatten. Wir setzten uns ans Ufer, zogen die Schuhe an. Papa schlüpfte wie immer in seine Plastikschalen-Schlittschuhe, die nach unserem Keller rochen, in dem vor allem alte Zeitungen lagerten.

Mit geschlossenen Augen

Mit lautem Knallen schloss er die Scharniere. Ich blieb immer solange sitzen, bis Papa endlich aufstand und sich hinausschwang auf den Weiher, schloss dann die Augen und genoss das schwerfällige Knarzen, das sein Gewicht auf dem Eis erzeugte. Er führte den Puck mit seinem langen Holzschläger übers Eis, und wenn wir Glück hatten, schien dazu die Sonne vom Winterhimmel und ließ mich blinzeln, wenn ich meine Augen irgendwann wieder öffnete.

Wenn Papa mich rief und ich aufstand, um meinerseits die ersten Schwünge zu machen, bekam ich ein Gefühl davon, was Glück bedeutete. Wir bauten zwei Tore aus unseren Straßenschuhen, meines viel kleiner als seines, dann spielten wir Russland gegen Kanada. Papa tröstete mich, wenn ich fiel, Papa hielt mich fest, wenn ich drohte umzufallen, Papa ließ sich stöhnend fallen, wenn ich ihn mit meinem kleinen Körper checkte. Papa gab mir das Gefühl, als ginge es für ihn um den Olympiasieg. Papa überspielte den Schmerz, wenn ich ihm ans Schienbein schoss. Und Papa verlor immer. Aus Liebe.

Die Sonne blendete

Gestern bin ich an unserem Weiher vorbeigefahren. Ich habe ihn durchs Autofenster gesehen. Der Weg ist jetzt leicht verschneit, noch ganz ohne Trampelpfad, es war lange ja noch nicht kalt genug. Die Sonne hat sich gespiegelt auf der Oberfläche, sie blendete mich kurz, als wolle sie sagen: komm her, Eishockeyspielen, so wie früher. Ich war lang nicht mehr dort. Papa ist vor acht Jahren gestorben.

Ich habe mir vorgenommen, in ein paar Tagen noch einmal zum Weiher zu schauen, zu Fuß, mit meinen Schlittschuhen unter dem Arm. Ich möchte meinen Sohn mitnehmen, fünf Jahre ist er alt. Dann werden wir zwei Tore bauen aus unseren Straßenschuhen, ein großes und ein kleines, und ich werde ihn auffangen, wenn er droht zu fallen, seine kleinen Hände in meinen großen Wärmen. Ich werde ihm von seinem Opa erzählen, wenn wir uns in den Schnee legen. Wir werden uns dazu die Mütze ausziehen und zusehen, wie der Dampf in Richtung Himmel steigt. Und ich werde verlieren. Aus Liebe.