Langzeitarbeitslose reden bei der Vermittlung mit

24.10.2017, 06:00 Uhr
Langzeitarbeitslose reden bei der Vermittlung mit

© Julian Stratenschulte/dpa

Die Veränderung ist der 53-jährigen Erwerbslosen anzumerken: Beim ersten Presseinterview vor fast einem Jahr wirkt sie schüchtern, nur leise erzählt sie von ihrer Suche nach einer Stelle - und ihrem Einsatz für ein Programm zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Ihre Anonymität will sie nicht aufgeben, zu sehr schämt sie sich noch für ihre Situation: In einem Bericht heißt sie deshalb Ursula B.

Jetzt aber soll ihr voller Name genannt werden, betont Ursula Böhme beim Gespräch. In den vergangenen Monaten hat die frühere Siemens-Mitarbeiterin, die aufgrund von körperlichen und psychischen Erkrankungen höchstens halbtags einer Beschäftigung nachgehen kann, enorm an Selbstbewusstsein gewonnen - und das liegt mit an ihrer neuen Aufgabe für ein ungewöhnliches Wiedereingliederungsprojekt.

Denn die Stadt Erlangen hat vor einiger Zeit ein Modell zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit gestartet, das seinesgleichen suchen dürfte. Ein wesentlicher Teil ist dabei die Beteiligung der Betroffenen selbst: Langzeitarbeitslose sitzen mit Vertretern aus Stadt, Jobcenter, Bundesagentur, Gewerkschaften oder Betrieben gemeinsam am Tisch und bringen ihre ganz persönlichen Erlebnisse in die Diskussion ein.

Auch Ursula Böhme nimmt bereits seit 2015 an Arbeitsgruppen, Gesprächen und Konferenzen zu dem Thema teil. Die Erlangerin weiß, wie es ist, wenn man ohne Arbeit, wie sie formuliert "in einem "Abwärtsstrudel" gerät und sich aus eigener Kraft nicht mehr aus der Resignation ziehen kann. Ihr selbst halfen die Besuche im ehemaligen "Job-Café" der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Förderung der Arbeit (GGFA) und ein Aktivierungsprogramm des Sportamtes, das auch Langzeitarbeitslose mit leichter Gymnastik ansprechen will.

"Ich habe Kontakt gefunden zu Menschen, denen es ähnlich wie mir ergeht. Das hat mich wieder mit auf die Beine gebracht", erzählt Ursula Böhme.

Genau deshalb finden sich nun solche Punkte im sogenannten Zielkompass der Initiative wieder. So haben Stadt und das Netzwerk "Ratschlag für soziale Gerechtigkeit" (ein Bündnis aus gewerkschaftlichen, kirchlichen, parteipolitischen Gruppen sowie Wohlfahrtsverbänden) in ihr fast 30-Punkte-Programm eine Anlaufstelle für alle ohne Konsumzwang und die Gründung eines Anti-Couch-Vereins aufgenommen.

Ursula Böhme wird eine Art Mittlerrolle übernehmen: Sie sucht Bezieher von Arbeitslosengeld (Alg) II (gemeinhin als Hartz-IV-Empfänger bekannt) zu Hause auf, um sie vom Sofa zu holen und aus ihrer Lethargie zu reißen.

Langzeitarbeitslose reden bei der Vermittlung mit

© Frank Riegler

Auf solche Maßnahmen haben sich die rund 100 Teilnehmer der ersten Arbeitsmarktkonferenz im Rathaus verständigt. Das Konzept wird bei jährlichen Treffen auf seine Fortschritte hin überprüft, erklären Sozialbürgermeisterin Elisabeth Preuß (FDP) und "Ratschlag"-Sprecher und DGB-Chef, Wolfgang Niclas.

Für den Gewerkschaftsfunktionär entscheiden über den Erfolg vor allem Zahlen: "Wir werden beobachten, wie viele Langzeitarbeitslose wirklich eine Stelle finden." Im September 2017 lag die Arbeitslosenquote in Erlangen bei 3,9 Prozent, die Zahl der Erwerbslosen betrug 2394, die Zahl der Langzeitarbeitslosen lag bei 827.

Doch nicht alle Langzeitarbeitslosen lassen sich in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bringen, räumt Niclas ein; manche haben  mehrere Handicaps. "Diesen Menschen kann der öffentlich geförderte Arbeitsmarkt helfen, für sie ist er ein tolles Modell."

Wenn Niclas aber sieht, wie sich die bayerische Politik sträubt, das "Passiv-Aktiv-Modell" anzuwenden, bekommt er einen "richtigen Prass". Das Konzept sieht vor, Arbeitslosengeld-Mittel der Bundesagentur für Arbeit für die aktive Eingliederung in den Arbeitsprozess zu nehmen.

Aber auch Arbeitgeber sieht der DGB-Chef in der Pflicht: "Das Argument, dass es für Langzeitarbeitslose keine Stellen gibt, lasse ich nicht gelten.". Erlangen habe als starker Dienstleistungsstandort ausreichend Kapazitäten. Der Beitrag, den IHK und Handwerkskammer bislang in dem Bereich leisteten, sei "noch ausbaufähig", kritisiert Niclas. Auch bei der Erlanger Arbeitsmarktkonferenz waren nur wenige Unternehmen anwesend.

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