Provozierend und verstörend

3.6.2014, 18:34 Uhr
Provozierend und verstörend

© NN

Mit weißen Stoffhandschuhen blättert eine Frau durch „Frost“, das neueste Buch von Jürgen Höritzsch. Es ist in Kooperation mit dem Berliner Lyriker Andreas Altmann entstanden und wurde 2012 erstmals auf der Leipziger Buchmesse der Öffentlichkeit präsentiert. Der Blick der KVE-Besucherin bleibt an einer Radierung auf weißem Büttenpapier hängen, das ein Kind zeigt, das in Embryonalstellung so daliegt, als wäre es gerade gefallen. Eine Frau – seine Mutter? – steht in einiger Entfernung und hat den Blick gesenkt, im Hintergrund hetzt ein wildes Tier.

Technisch professionell

Die gezeigte Szene weckt Assoziationen an Dürre, Hunger und soziale Kälte, ist verstörend, nicht selbsterklärend. Wie viele der technisch professionellen Druckgrafiken des Chemnitzer Künstlers ist die beschriebene Radierung nicht schön, provoziert und lässt reichlich Raum für Interpretationen. „Die Arbeiten sind nicht als Bilderrätsel gedacht“, sagt Höritzsch. „Es gibt keine Lösungen für die Bilder.“ Betrachter sollten die Grafiken einfach auf sich wirken lassen, sich ihren Teil dazu denken.

Und dennoch: Viele der mehr als 40 in der Neuen Galerie (Hauptstraße 72) präsentierten Blätter haben einen historischen oder aktuellen Bezug, spielen mit Chiffren und Wandlungen, wollen erklärt und verstanden werden. Manchmal erleichtern das den Grafiken gegenübergestellte Texte, wenngleich diese die beklemmende Wirkung eher noch verstärken. „Der Schrei nach Glück ist eine Wolke hoch im Himmel. Hier unten drehe ich mich im Hexenkessel“, heißt es darin etwa.

Missstände aufgreifen

Dass viele seiner Arbeiten den Finger in die Wunde legen, Missstände aufgreifen und beispielsweise Erdrutsche, politische Gewalt und Krieg thematisieren, ist Höritzsch gar nicht so bewusst. „Sicher kommen auch problematische Lebensbereiche vor“, räumt der Mittfünfziger ein. „Ich will das nicht ausklammern.“ In seinen Augen negiere aber jemand, der nur das Schöne darstelle, mehr die Realität, als er das tue, räsoniert der gebürtige Sachse.

An der Druckgrafik reize ihn die Technik, berichtet der Autodidakt, dem der Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen Republik einst den Zugang an die Kunsthochschule Leipzig verwehrt hat. Aus heutiger Sicht werte er das als Licht und Schatten: „Ein Studium hätte mir sicher vieles einfacher gemacht. So musste ich mich lange mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten.“ Andererseits habe er sich auf dem Wege seine Eigenständigkeit bewahrt. Ansonsten erlebte er das Aufwachsen in der DDR aber nicht als negativ.

Kooperation mit Lyrikern

Besonders lieb gewonnen hat Höritzsch die von ihm in den vergangenen Jahren per Hand und in Tiefdrucktechnik erstellten Bücher in Auflagen von jeweils 30 Stück. Anfangs verfasste er dafür selbst Wortketten oder ließ sich von expressionistischen Texten leiten. Inzwischen kooperierte der gelernte Informatiker dafür zwei Mal mit Lyrikern. „Am Anfang steht der Wille, zusammenzuarbeiten“, illustriert der Chemnitzer. „Dann tauscht man zwei, drei Texte und zwei, drei Grafiken aus.“ In der Folge suchten beide Seiten nach korrespondierenden Werken oder ließen sich durch die Arbeit des jeweils anderen zu neuem künstlerischen Schaffen inspirieren.

Kunstverein Erlangen: „Bruder Alltag, Schwester Mythe“, bis 14. Juni, Di.-Fr. 15 bis 18 Uhr, Do. 15 bis 19 Uhr, Sa. 11 bis 14 Uhr. Die Schau ist auch am Pfingstsonntag und -montag geöffnet. www.kunstverein-erlangen.de — www.juergen-hoeritzsch.de

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