Wenn das Leben zur Qual wird: Sterbehilfe in Deutschland

23.3.2019, 17:00 Uhr
Selbstbestimmtes Sterben ist für Silvan Luley von Dignitas ein "letztes Menschenrecht".

© Sebastian Kahnert Selbstbestimmtes Sterben ist für Silvan Luley von Dignitas ein "letztes Menschenrecht".

Vor einem Monat berichteten die EN über einen Fall, der vor dem Amtsgericht verhandelt wurde: Eine Frau hat ihren geschiedenen aber immer noch geliebten Mann erschossen. Sie hat dem Sterbenskranken seinen letzten Wunsch erfüllt und wurde dafür zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Was sagen Sie dazu?

Silvan Luley: Das ist eine Tragödie und leider kein Einzelfall. Verantwortlich hierfür sind jene 360 Bundestagsabgeordneten, welche am 30. Juni 2017 für den Paragraf 217 Strafgesetzbuch – Verbot wiederholter und somit professioneller Suizidhilfe – gestimmt haben. Solange die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands keine legale und menschenwürdige Hilfemöglichkeit zu einer wirklich selbstbestimmten Leidensbeendigung haben, wird es wohl weiter solche tragische Fälle geben.
 
In Deutschland ist Sterbehilfe seit 2015 strafbar. Man macht sich Sorgen, dass die Selbstmordraten im Fall einer Legalisierung ansteigen und Menschen zum Suizid gedrängt würden. Wieso sind die Argumente der Sterbehilfegegner aus Ihrer Sicht falsch?
Luley: „Sterbehilfe“ ist ein ungenauer Sammelbegriff, unter dem verschiedene Formen von Hilfe zum und beim Sterben zusammengefasst werden. Konkret geht es bei Paragraf 217 um die Suizidhilfe, den assistierten Suizid. Die Schweiz hat seit 35 Jahren die Wahlmöglichkeit der Freitodbegleitung, im Beziehungs-Dreieck zwischen Patient und seinen Angehörigen, dem Arzt und einem gemeinnützigen Verein wie Dignitas. Die Zahl dieser Freitodbegleitungen im Verhältnis zu allen Sterbefällen liegt auch nach all diesen Jahren bei nur rund 1,5 Prozent. 2016 ging die Zahl gegenüber dem Vorjahr zurück.
 
Ihr Verein bezeichnet das selbstbestimmte Sterben als „letztes Menschenrecht“. Wie ist das zu verstehen?
Luley: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 20. Januar 2011 in einem von Dignitas geführten Fall entschieden: Über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes zu entscheiden, so man seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln kann, ist eine von der Europäischen Menschenrechtskonvention geschütztes Freiheitsrecht. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat dies am 2. März 2017 als Persönlichkeitsrecht aus Artikel zwei, Absatz eins in Verbindung mit Artikel eins, Absatz eins des deutschen Grundgesetzes bestätigt.
 
Dignitas bietet eine professionelle Freitodbegleitung an. Wie funktioniert das?
Luley: Es würde den Rahmen dieses Interviews sprengen, das drei- bis viermonatige Vorbereitungs- und Prüfungsverfahren hin zu einer legalen, ärztlich unterstützten und professionellen Freitodbegleitung in der Schweiz darzulegen. Die Informationen sind aber für jeden auf der Internetseite des Schweizer Dignitas-Vereins zugänglich.
 
Sie setzen sich aber nicht nur für das Recht ein, das eigene Leben beenden zu dürfen, Sie kümmern sich auch um Suizidprävention. Wie passt das zusammen?
Luley: Suizidversuchsprävention. Nicht „nur“ Suizidprävention. Es gibt zehn, 20 bis 50 Mal mehr gescheiterte Suizidversuche als Todesfälle durch Suizid. Suizidversuchsprävention bedeutet: Die aus welchem Grund auch immer suizidal gewordenen Menschen ernst nehmen, nicht stigmatisieren, offen und ehrlich über alles sprechen und umfassend und ergebnisoffen beraten.

Silvan Luley hat in Erlangen einen Vortrag über die Arbeit von Dignitas gehalten.

Silvan Luley hat in Erlangen einen Vortrag über die Arbeit von Dignitas gehalten. © privat

Die Zahl der Suizidversuche kann nur dann wirklich verringert werden, wenn die über Jahrhunderte tradierte religiöse Ächtung des Suizids, das aufgebaute Tabu, durchbrochen wird. In der Schweiz nimmt die Zahl der Suizide seit Jahren ab. Nicht nur, aber auch, weil es den legalen, ärztlich unterstützten „Notausgang“ gibt. Suizidversuchsprävention und Suizidhilfe gehen Hand in Hand: Wer weiß, dass er kann und darf, muss nicht, lebt besser, auch länger, und sieht sich nicht gezwungen, vor den Zug zu gehen oder von einem Hochhaus zu springen. In Ländern, in denen das Bedürfnis nach Wahlfreiheit und das Recht auf Selbstbestimmung in „letzten Dingen“ missachtetet wird, bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als selbst Hand an sich zu legen – mit gravierenden Folgen für sich und Dritte.

Menschenrecht auf Selbstbestimmung

Sie haben das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2017 angesprochen. Es entschied, dass Patienten in extremen Notlagen Natrium-Pentobarbital erhalten dürfen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hindert das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) jedoch aktiv daran, dem nachzukommen. Wie sehr enttäuscht Sie das?
Luley: Vor dem genannten Hintergrund des europäischen Gerichtsurteils und der ihm widersprechenden Entscheidung der Bundestagsabgeordneten wundert es nicht, dass Herr Spahn den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig missachtet. Was Politiker wie Spahn tun, hat nichts mit Schutz des Lebens zu tun, wie sie gerne behaupten, sondern ist menschenverachtender, egoistischer und ideologisch-religiös betonierter Machtmissbrauch.
 
Was können Menschen in Deutschland, für die keine Chance auf Heilung besteht und die ihr Leben nur noch als Qual empfinden, derzeit tun?
Luley: Eine gute Patientenverfügung abschließen, mit ihren Liebsten Gespräche über die Gestaltung des Lebensendes, auch der Sterbebegleitung führen, die Möglichkeiten der Palliativmedizin ausschöpfen: Alles, was sowieso getan werden soll, und was genau so wichtig ist wie die Suizidhilfe. Und für alle, die weiterleben: In den nächsten Wahlen dafür sorgen, dass Politiker, welche das Menschenrecht auf Selbstbestimmung in „letzten Dingen“ missachten, aus ihren Ämtern entfernt und durch solche ersetzt werden, die mehr Mitgefühl und Respekt für schwerleidende Menschen haben. 

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