Sylvia Kiesewetter berichtet von den Azoren

Diese Insel ist aus dem Vulkan geboren

28.10.2021, 10:00 Uhr
Die neu entstandene Halbinsel, von der die Hälfte schon wieder ein Opfer der Wellen geworden ist.

© Sylvia Kiesewetter, NNZ Die neu entstandene Halbinsel, von der die Hälfte schon wieder ein Opfer der Wellen geworden ist.

Die Azoren, eine autonome Region Portugals, sind eine Inselgruppe vulkanischen Ursprungs, die auf dem Mittelatlantischen Rücken auf der Plattengrenze zwischen Eurasischer und Nordamerikanischer Platte mit der kürzesten Entfernung von 1369 Kilometer vor der Küste Portugals liegt.

Die 1957 beim Ausbruch des Capelinhos verschütteten Häuser.

Die 1957 beim Ausbruch des Capelinhos verschütteten Häuser. © Sylvia Kiesewetter, NNZ

Je näher die Inseln an der Plattengrenze liegen, desto jünger sind sie und desto aktiver ist dort noch der Vulkanismus. Ich bin auf den Azoren mit einem Expeditionsschiff unterwegs und suche nach interessanten Erkenntnissen zum Thema Vulkanismus für unsere Leser. Fündig werde ich auf der Insel Faial.

Neun Inseln sind bewohnt

Sylvia Kiesewetter auf der Insel, die zwei Tage älter ist als sie selbst.

Sylvia Kiesewetter auf der Insel, die zwei Tage älter ist als sie selbst. © Sylvia Kiesewetter, NNZ

Die Azoren bestehen aus neun bewohnten Inseln. Die nordwestliche Gruppe aus Corvo und Flores liegt auf der Nordamerikanischen Platte mit der kürzesten Entfernung zu Neufundland, Kanada, von 1930 Kilometer. Die zentrale Gruppe auf der Eurasischen Platte besteht aus Faial, Pico (mit dem höchsten Berg Portugals, dem Pico mit 2351 Meter, der auch gleichzeitig die höchste Erhebung des Mittelatlantischen Rückens ist), São Jorge, Graciosa und Terceira. Die Inseln der südöstlichen Gruppe, ebenfalls auf der Eurasischen Platte, heißen Santa Maria und São Miguel, dazu kommen die unbewohnten Formigas.

Der Leuchtturm von Faial ist verschüttet bis zum obersten Stockwerk. Der Turm hat keinen Schaden genommen. Das Museum für Vulkanismus wurde unterirdisch in den verschütteten Stockwerken eingerichtet.

Der Leuchtturm von Faial ist verschüttet bis zum obersten Stockwerk. Der Turm hat keinen Schaden genommen. Das Museum für Vulkanismus wurde unterirdisch in den verschütteten Stockwerken eingerichtet. © Sylvia Kiesewetter, NNZ

„Die Insel Faial ist dem Mittelatlantischen Rücken am nächsten und die jüngste Insel der zentralen Gruppe“, erzählt Maria, Guide im Museum für Vulkanismus. „Das letzte Erdbeben ereignete sich 1998. Es zerstörte etwa 900 Häuser, tausende Menschen wurden obdachlos und mussten umgesiedelt werden.“ Das Museum ist im alten Leuchtturm der Insel untergebracht. Ich gehe auf einem Plattenweg, der über planierte Vulkanasche führt, auf ein Gebäude zu, das sozusagen bis zum Hals in der Asche steckt. Nur das oberste Stockwerk und der Turm selbst ragen aus der Ebene heraus. Das Museum wurde unterirdisch in den unteren Stockwerken des Leuchtturms errichtet.

Es ist fast ein Wunder

„Es grenzt schon an ein Wunder“, erzählt Maria, „dass der Leuchtturm den Vulkanausbruch von 1957 so unbeschadet überstanden hat.“ Ja, es ist kaum zu glauben und ein erstaunlicher Anblick. Weiter unten Richtung Steilküste sehe ich die Schemen der Hausdächer der ehemaligen Siedlung. Sie sind dick mit Asche bedeckt. Einige Hausgiebel und Mauerreste ragen aus der schwarzen Lava wie verkohlte Skelette.

Still ist es hier, als würde die Asche nicht nur jegliche Lebensspuren, sondern auch jedes Geräusch ersticken. Nur die Wellen höre ich gegen die Steilküste rollen. Ohne Unterlass nagen sie am Gestein der neuen Insel und spülen weiche Ascheschichten fort. Welche Schicksale mögen sich hier ereignet haben? Was für ein Anblick muss die Aschewolke für die Menschen gewesen sein? Als würde sich die Hölle auftun?

1000 Meter hoch in die Luft

Am 27. September 1957 brach der unterseeische Vulkan Capelinhos an der Westküste von Faial aus. Die Asche wurde bis zu 1000 Meter hoch in die Luft geschleudert. Er spuckte so viel Asche aus, dass vor der Küste eine neue Insel entstand. Allerdings spülte das Meer den Großteil der Ascheinsel wieder weg. Dann folgte der zweite Ausbruch, heftiger, ergiebiger. Die Insel baute sich wieder auf. In der dritten Phase floss Magma aus dem Schlot des Capelinhos und befestigte die Oberfläche. Die neue Insel wurde mit Faial verbunden. Die „Ilha Nova“ (Neue Insel) oder „Ponta dos Capelinhos“ (Brücke des Capelinhos) war geboren. Der Prozess dauerte vom 27. September 1957 bis zum 24. Oktober 1958 in mehreren Phasen.

300 Häuser wurden zerstört. 2000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Die entstandene Halbinsel erweiterte Faial um 2,4 Quadratkilometer, jedoch wurde etwa die Hälfte der Ascheinsel schon wieder ins Meer gespült. Wie immer, wenn auf den Azoren ein Vulkan ausbricht oder ein Erdbeben die Inseln erschüttert, beginnt eine Auswanderungswelle der Bevölkerung vorwiegend in die USA, aber auch nach Europa.

Neuanfang woanders gesucht

Das karge Leben, die Entbehrungen und die Abgeschiedenheit auf den Inseln machen die Entscheidung der Menschen leichter, woanders einen Neuanfang zu machen, wenn die Angst um das eigene Leben und um die mögliche Zerstörung der Heimatinsel überhandnimmt. Die Bevölkerungszahl auf den Azoren schrumpft von Jahr zu Jahr.

Ich stehe auf der natürlichen Terrasse über dem Meer, die der Vulkan geschaffen hat. Wie eine breite schwarze Düne schwingt sich das neue Land hinaus ins Meer, um sich senkrecht ins Wasser hinabzustürzen. Auf der anderen Seite scheinen zwei urzeitliche Tiere mit runden Panzern die Köpfe zu kreuzen. Dazwischen ist eine Bucht entstanden, die die neue mit der alten Insel verbindet.

Erste Büsche haben sich auf der Vulkanerde angesiedelt. Die verschiedenen Phasen des Ausbruchs haben das neue Land aufgeschichtet. An den Abbruchkanten ist jede Eruption dokumentiert durch eine andersfarbige Schicht, die in Variationen von Rot, Braun, Grau und Schwarz changieren. Angesichts dieser unbändigen, rücksichtslosen, gewaltigen Schaffenskraft der Natur werden wir alle sehr still und demütig.

Aber wissen Sie, was mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert? Die Ilha Nova ist genau zwei Tage älter als ich.

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