Forchheim: Mauerbauer legen Finger in die Wunde

19.3.2019, 05:56 Uhr
Forchheim: Mauerbauer legen Finger in die Wunde

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Tatzeit: Ende Dezember 2017. Der Weihnachtsmarkt ist längst vorbei, geblieben sind verwaiste Stände der Budenbetreiber und die Winterkälte. Dort, wo einst die Pyramide aus Holz die Marktbesucher mit heißem Glühwein die vorweihnachtlichen Abendstunden erwärmt hat, herrscht in den Tagen nach Heiligabend emsiger Betrieb: Es wird geschraubt und gehämmert. Die Buden verlassen langsam aber sicher die Stadt. Dann muss es passiert sein.

Der Täter ist bis heute auf der Flucht. Aber noch ist er kein Fall für Aktenzeichen XY ungelöst. Er hat ein meterlanges Stück aus der historischen Mauer, die den Pfalzgraben umgibt, herausgerissen. Vermutlich, so erzählt man es sich, ist ein Lkw beim Rangieren an einer Leitung hängen geblieben, das hat eine Kettenreaktion ausgelöst und Sandsteine auf mehreren Metern aus der Mauer herausgerissen. Im Pfalzgraben kamen sie zum Liegen, in der Mauer klaffte mit dem Loch eine Wunde, die zunächst niemand bemerkte. Es dauerte ein paar Tage, bis die Steine, die nicht mehr da waren, bemerkt worden sind. Es vergingen Monate, in denen die Wunde offen klaffte.

Die Forchheimer Mauerbauer konnten das nicht mehr mit ansehen und schritten zur Tat. Regelmäßig trifft sich die Gruppe der bis zu neun Männer in Forchheim zum Stammtisch. Sie kommen nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus den Dörfern in der Umgebung und haben eins gemeinsam: Die Liebe zu ihrer fränkischen Königsstadt.

Wink mit dem Zaunpfahl

Beim Stammtisch wird nicht nur Bier getrunken, sondern auch über die Politik im Kleinen diskutiert. "Wir sind ein klassischer Stammtisch, da wird auch über Lokalpolitik gesprochen", sagt einer der Mauerbauer im investigativen Gespräch mit den Nordbayerischen Nachrichten. Auch wenn die Redaktion weiß wie er heißt, seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Die Künstler wollen sich nicht in den Vordergrund stellen, sondern ihr Mauerwerk. "Es geht uns nicht um Selbstdarstellung", sagt er. Am Ende soll, neben der Mauer, nur eines stehen: Die mit dem Werk verbundene Nachricht an die Stadt, der bekannte Wink mit dem Zaunpfahl. Ein Derblecken mit Styropor.

Aus einer Hopfen-und-Malz-Laune heraus kamen die jungen Männer auf die Idee: Die Mauer muss her! Das war irgendwann im Sommer, als die Wunde seit Monaten klaffte. "Wir mögen Forchheim, es ist eine schöne Stadt, unsere Heimat." Umso erstaunlicher war es für die Lokalpatrioten, dass die Stadt "eines der wichtigsten Kulturgüter und eine imposante Blickachse nicht repariert". Wie berichtet, stand die Stadt über Monate im Gespräch mit der Versicherung. Bis vor wenigen Wochen die Ernüchterung einkehrte: Ohne Täter kein Geld. Die Stadt muss das Loch mit dem Griff in den eigenen Geldbeutel stopfen.

Für die jungen Männer, die die Stadt im Herzen und die Mauern aus Styropor durch die Nacht tragen, kein Argument. Hätten sie das Sagen gehabt, wäre die Mauer vorsorglich repariert worden. Und wenn der Täter gefunden worden wäre, hätten sie ihm die Kosten nachträglich in Rechnung gestellt.

Die Handwerker unter ihnen schritten nach dem Stammtisch nüchtern zur Tat. In geheimer Mission hatten sie die Mauerwunde vor Ort ausgemessen, die Maße in einer Werkstatt auf identisch große Styropor-Steine übertragen und sie mit Bauschaum verklebt. "Wir waren selbst verwundert, wie stabil das ist." Hitze und Kälte, Regen und Schnee. Alles hat die Mauer ausgehalten. Das sie das so lange musste, dachten selbst die Erschaffer nicht. Selbst die Sandsteinoptik blieb unversehrt. Auf den noch feuchten Putz hatten sie Sand gestreut, so die Struktur erhalten.

Drei Tage Arbeit steckten im Werk. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion schritten sie zur heikelsten Mission: Das vorgebaute Mauerwerk in das echte einzupassen. Zwei Männer hievten das auf beachtliche Kilogramm angewachsene Kunstwerk auf einen Hänger. In der Nacht unmittelbar vor dem ZirkArt-Festival in der Altstadt rückten sie bei der Kaiserpfalz an. "Wir waren selbst überrascht. Die Leute sehen zwar, was passiert, aber es war für sie scheinbar uninteressant." Niemand machte den Erbauern einen Strich durch die Rechnung. Am Morgen dämmerte es den ersten Forchheimern. Dort, wo das über Monate fast schon vertraute Loch klaffte, war plötzlich keines mehr. "Genau auf diesen Aha-Effekt haben wir gesetzt."

Kein bombensicherer Bau

Die Mauer stand. Bombenfest. Bis wenige Tage später Fabienne über Stadt und Landkreis brauste. Das Sturmtief kappte einen Baum im Graben, der fiel auf die Mauer. "Nach dem Sturm haben wir die Kleinteile eingesammelt, zusammengeklebt und neu verputzt." Forchheim hatte seine Mauer schnell zurück.

Über Monate hatten die Menschen in der Stadt über die Mauerbauer spekuliert. Wer sind sie? Und wenn ja, wie viele? Recherchen der Redaktion endeten im Nirwana. Partout wollte oder durfte keiner wissen, wer hinter dem Scherz steckt. Hinweise verliefen im Sand. Am meisten amüsiert darüber haben sich die Stammtischler selbst. "Nur ein wirklich eingeweihter Kreis an Menschen wusste Bescheid, wer wir sind." Und das Netzwerk hat überraschend gut still gehalten.

Bis zum Sonntag im März, als sich "Die Forchheimer Mauerbauer" auf dem Faschingsumzug der Stadt präsentierten — natürlich mit ihrem Meisterwerk auf einem Anhänger. Mit gelben Bauhelmen und schwarzen Zensurbalken vor ihren Augen. Am Narrendienstag haben sie das Werk zurückgebracht. Doch dieses Mal sind sie erwischt worden — vom Stadtchef persönlich.

Mauerscheißer und -bauer

Oberbürgermeister Uwe Kirschstein hat die Männer gleich auf eine Runde Bier eingeladen. "Das war eine sehr gute Lösung, eine pfiffige Idee, den Finger in die offene Wunde zu legen, die ja noch immer klafft", sagt Kirschstein. "Wir haben nicht nur den Mauerscheißer, sondern auch die Mauerbauer." Mittlerweile ist klar, wie es mit dem Loch weitergeht. "Wir schließen es wieder mit Steinen", sagt der OB (wir berichteten). Die Stadt sei mit Sandsteinbauern in Kontakt. Bis diese tatsächlich anrücken, bleibt das Ersatzmauerwerk stehen, beschützt von einem Bauzaun. Damit ja niemand mit der Leichtbauweise in den Graben stürzt.

Wie lange der Ersatz aus Styropor noch steht, ist offen. Genauso, wo die Mauer, also die Ersatzvariante, später einmal landet. Im Gelben Sack? Das wissen selbst die Erbauer noch nicht, obwohl sie zusammengewachsen sind, sie und ihre Styropormauer. "Wir freuen uns, wenn sie im Pfalzmuseum ausgestellt wird", sagt einer der Stammtisch-Freunde und lacht.

Gar nicht so schlecht, die Idee. Ist ja schließlich ein Mauerstück Forchheimer Geschichte.

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