Forchheim: Wladimir Kaminers Sicht auf uns

27.1.2020, 15:57 Uhr
Forchheim: Wladimir Kaminers Sicht auf uns

© Foto: Anja Hinterberger

Deutsch ist eine wunderbare Sprache. Noch wunderbarer ist nur noch das Fränkische, versteht sich. Ebenfalls wunderbar, auf eine sehr osteuropäische Weise, ist Deutsch mit russischem Akzent. Mit vielen eingeweichten Vokalen, wenn zum Beispiel ein "e" wie "je" klingt (mit drei "j" gesprochen), ganz ohne Wodka-Einfluss. Oder doch mit?

Jedenfalls: Wladimir Kaminer, dieser russische Schriftsteller deutscher Zunge aus Berlin – oder ist er ein deutscher Schriftsteller russischer Herkunft? – verbringt die Zeit im Urlaub vor allem an der Bar (was auch mit seiner Frau und ihrer Schneeallergie zu tun hat, aber das führt jetzt zu weit). Das sagte er als Gast des Neujahrsempfangs der Stadt und des Förderkreises Kaiserpfalz (der Vorsitzende Ewald Maier überreichte ihm hernach eine Anderthalb–Liter-Flasche Frankenwein) in eben jener Pfalz.

Dabei trug er auch Geschichten vor ("Lesung" wäre ein zu schwacher Ausdruck für diese Art des Vortrags), die er in dem Buch "Kreuzfahrer" aufgeschrieben hat. Darin kommen viele Deutsche vor, auch und besonders in der Karibik.

Russische Brille

Ja, Kaminer, 1966 in Moskau geboren und 1990 nach Deutschland übergesiedelt, hält uns Deutschen den Spiegel vor, durch seine russisch gefärbte Brille gesehen (obwohl er gar keine trägt), verwahrt sich aber gegen falsche Freunde, die Putin einen guten Mann nennen, auch und gerade auf karibischen Zuckerrohr-Inseln. Zum Schluss, als das über 200-köpfige Empfangspublikum voller Honoratiorinnen und Honoratioren nicht mehr aufhören will zu applaudieren, wünscht er sich und uns für 2020 ein harmonisches Europa, "mit Russland als Freund". Erneut Applaus.

Der Autor Kaminer ist als Entertainer zweifellos ein Gesamtkunstwerk. Ein Mann des geschriebenen wie des gesprochenen Wortes, ein Witze-Macher mit Hintersinn, der es versteht, Pointen zu verzögern und dann, wenn er sie gesetzt hat, noch eine draufzusetzen – und noch eine. Kaminer erhielt aber an diesem Abend noch künstlerische Unterstützung in einem Genre, das seine zweite Leidenschaft darstellt: in der Musik.

Lokalmatador David Saam aus Heroldsbach kennt Kaminer schon länger. Er hatte sich mit russisch-fränkischer Musikliteratur für den Auftritt präpariert. Mit seinem Akkordeon schaffte Saam es mühelos, das honorige Publikum zum Mitklatschen und Mitsingen zu animieren. Ganz ohne Bier oder Wodka. Die Bewirtung fand erst hernach statt, im Gewölbekeller. Dort durfte das Gehörte und Gesagte bewertet, geprüft und beredet werden. Wobei auch das eine oder andere Wort über den Vortrag des Oberbürgermeisters gesprochen wurde. Er war wie stets seit 2017 angetreten, ein Grußwort zu sprechen, inklusive einem politischen Ausblick aufs Jahr. Vor zwei Jahren hatte Uwe Kirschstein (SPD) bei dieser Gelegenheit mit einer Philippika, einer Brandrede gegen die Führung der SpVgg Jahn Forchheim überrascht.

Diesmal hatte er sich dazu entschieden, nachzutarocken, um mal ein etwas weniger gebräuchliches Wort zu verwenden. Ehe Kirschstein aber seinen Stich setzte, zog er ein kurzes Resümee seiner vierjährigen Amtszeit: Mehr als doppelt so viele Wohnungen genehmigt und gebaut als in den vier Jahren zuvor; aber es reicht noch nicht; Bauzwang im Baulandmodell eingeführt, sogar die Staatsregierung will das gesetzlich festlegen, war also goldrichtig; in 20 Kitas werden über 1500 Kinder betreut, sieben Einrichtungen werden derzeit gebaut und geplant, wir bleiben dran; der Kulturentwicklungsplan "läuft auf Hochtouren" (ungläubige Blicke im Publikum), auf den neuen Kulturträger "KulturPuls e.V." sei er stolz: "Wir werden uns auch hier deutlich verbessern."

So weit, so einvernehmlich. Irritationen jedoch löste Kirschsteins neuer Frontalangriff auf "die Mehrheit des Stadtrates" aus. Wenn ein Problem eigentlich gelöst erscheint, aber dennoch erneut zum Gegenstand der Erörterung gemacht wird, heißt das "Nachtarocken". Kirschsteins Thema: die BayWa-Umsiedlung. Im November sei für den Agrar- und Landtechnik-Händler die unlängst beschlossene Fläche bei Kersbach ("Bertelsweiher") gefunden und beschlossen worden, nachdem das Gewerbegebiet bei Sigritzau unter dem Druck eines Bürgerbegehrens vom Stadtrat verworfen worden war.

Kirschstein: "Weitsichtig wäre gewesen, wenn wir meinen Vorschlag für exakt das heutige Plangebiet im Januar 2019 diskutiert hätten. Zugegeben, mein Vorschlag vor einem Jahr war eine größere Fläche als die, die wir heute überplanen. Über Größe und Ausdehnung kann man doch reden. Aber vor einem Jahr wollte leider die Mehrheit des Stadtrates nicht einmal über die Idee sprechen. Der Punkt wurde mir ohne Diskussion von der Tagesordnung genommen. Eine Gesprächsbereitschaft der Mehrheit des Stadtrates gab es nicht." Vielleicht hätte er noch hinzufügen können, dass die BayWa vor einem Jahr für diese Fläche noch kein Thema war. Aber das sind natürlich nur Kleinigkeiten.

So gesehen konnte das staunende Publikum nun auch Kirschsteins einleitende Worte besser einordnen: "Der erste Schritt ist immer die Kommunikation – ohne Worte können wir uns nicht einander annähern. Die ständige Gesprächsbereitschaft ist es, was in der Kommunalpolitik stets die wichtigste Komponente ist. Das kostet sprichwörtlich und wortwörtlich viel Zeit – sie ist es aber absolut wert."

Apropos Kommunikation: Anders als angekündigt las Kaminer nicht aus seinem jüngsten Werk "Liebeserklärungen". Statt dessen trug er eine Rotkäppchengeschichte aus einem Buch vor, das gerade erst im Entstehen ist. Forchheim war quasi Testpublikum. Sein neues Thema, sagte er, seien Kinder, die nicht erwachsen werden wollen, und Erwachsene, die immer kindischer werden. Den Forchheimern hat's gefallen.

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