Harald Kramer taucht fotografisch in seine Kindheit in Forchheim-Nord ein

24.5.2020, 09:00 Uhr
Harald Kramer taucht fotografisch in seine Kindheit in Forchheim-Nord ein

© Foto: Harald Kramer

Vor 50 Jahren entstand im Norden der Stadt ein neues Gotteshaus: die evangelische Christuskirche. Zum Jubiläum machte sich der Fotograf Harald Kramer (59) auf die Suche. Daraus wurde nicht nur eine Begegnung mit der eigenwilligen Architektur, sondern auch ein Wiedereintauchen in die eigene Kindheit, die sich für den kleinen "Harry" in und um die Gerhart Hauptmann-Straße abgespielt hatte. Ein einsamer Zigarettenautomat prangt an der Hauswand. Trostlos sieht das aus. Nur wer die Gegend kennt, weiß, dass sich hinter dem Apparat einst ein Mittelpunkt des Viertels befand. Jene legendäre Gastwirtschaft in der Jean-Paul-Straße, die offiziell Kropp hieß, im Volksmund aber nur "Zum blutigen Knochen" genannt wurde.

Was an einigen Gästen lag, die einer Auseinandersetzung durchaus nicht abgeneigt und mit Fäusten und Messern schnell zur Hand waren. Die Polizei sei grundsätzlich nur in Mannschaftsstärke angerückt: "In die Nähe habe ich mich nie getraut. Da waren die Hartgesottenen unterwegs."

Harald Kramer taucht fotografisch in seine Kindheit in Forchheim-Nord ein

© Udo Güldner

Die "Volksdeutschen" aus dem Osten waren nicht die einzigen, die hier ein neues Zuhause fanden. Hinter einer unscheinbaren Fassade in der Bammersdorfer Straße verbirgt sich die tragische Geschichte einer Sinti-Familie. Dutzende Angehörige wurden in Konzentrationslagern Opfer der rassistischen Verfolgung während des "Dritten Reiches". Hernach mussten sie in Baracken in einem "Zigeunerlager" in der Büg leben. An diese demütigende Zeit erinnert ein Wohnwagen im Bildhintergrund.

Auch die Familie Kramer, Großvater Franz sowie die Eltern Franz und Irmgard, war erst infolge des Zweiten Weltkrieges nach Stiebarlimbach und später nach Forchheim geraten. Die Donauschwaben aus Bezdan im heutigen Serbien bauten sich eine neue Existenz auf. In der Gerhart-Hauptmann-Straße 11 waren sie mit ihrem Schuhgeschäft Teil eines Versorgungszentrums, in dem die Einwohner eine Drogerie Schroll, eine Sparkasse und das Kurzwaren-Geschäft Winkler vorfanden. Eine Wohnung fanden die Kramers in der Eichendorffstraße, jenseits der Eisenbahngleise.

In seiner Freizeit tobte Harry mit anderen Kindern, darunter seinem Schulfreund Manfred Hümmer, über den Bolzplatz auf der Oehmswiese neben der Kirche Verklärung Christi. Ihren Namen hatte die Grünfläche, auf der heute das Pfarrheim steht, von der Bäckerei Oehm, die einst aus der Bammersdorfer Straße 22 heraus die Umgebung mit Backwaren versorgte.

Ein anderer Spielplatz waren die in die Jahre gekommenen Garagen in der Gerhart-Hauptmann-Straße, vor denen und gegen die man immer den Ball trat. Zur Stärkung holte man sich in der Bäckerei Kestler in der Heinestraße 29 ein "Negerkuss"-Brötchen.

Die Adalbert-Stifter-Schule nahm Kramer stets als Baustelle wahr. Erst wurde sie gebaut, dann ständig erweitert oder umgebaut, saniert und renoviert. Kein Wunder, dass er, der die vier Klassen bei Oberlehrer Schaptke und Frau Bauer besuchte, sinnbildlich einen Container ins Blickfeld gerückt hat. Schüler sind in dem Ausschnitt der Realität nicht zu finden, weil Kramer stets sonntags seine Runden drehte, "um das Viertel nackt zu zeigen".

Kein Lebewesen sollte ablenken. Dafür sind immer wieder rostige Fahrradständer, einsame Einkaufswagen und Stühle zu sehen. Die Idee zur fotografischen Spurensuche hatte Pfarrer Christian Muschler. Für Kramer eine Herausforderung. Denn im runden Inneren der Kirche hatte es schon Ausstellungen mit Werken Marc Chagalls, Ernst Barlachs oder Käthe Kollwitz’ gegeben. Das Zeltdach ist einem Tipi nachempfunden. Es verweist auf die Flüchtlinge und Vertriebenen, die seit den 50-er Jahren um die Paul-Keller-Straße herum angesiedelt worden waren. Für den ehemaligen Ministranten, der in der katholischen Nachbarkirche Dienst tat, war der Kirchenraum schwer zu fotografieren. So griff er zum Ausschnitt, um die Atmosphäre des gesamten Gebäudes einzufangen. Dass es eine Serie in Schwarz-Weiß wurde liegt an der Reduktion aufs Wesentliche. "Das ist im Glauben wie in meiner Kunst ähnlich."

Sein Spaziergang in die eigene Kindheit führt Harald Kramer auch zu den fünf Y-Häusern zwischen Bamberger und Pestalozzistraße. In den 60-er Jahren die ersten echten Hochhäuser im Stadtgebiet, benannt nach ihrer Anordnung, die man von oben für ein Ypsilon halten könnte. Der Kontrast aus moderner Architektur und verrosteten Klingelschildern hat den Fotografen in seinen Bann gezogen. "Ich habe sofort nach dem Namen meines alten Schulfreundes Michael Schütz gesucht. Natürlich wohnt der nicht mehr dort." Wer den Joseph-Otto-Platz heute sieht, kann kaum glauben, "dass hier einst das Leben pulsierte". Zwischen Apotheke Rudl, Schreibwaren Ulber, Metzgerei Schatz und Getränke Bauernschmidt. Bei den Kurzbesuchen kam bei Kramer wieder alles an die Oberfläche. Das Kaulquappenfangen am Sendelbach ebenso wie die Bonbonketten im Milchladen Wünsche in der Paul Keller-Straße. Nicht ohne Grund sind seine Bilder des ehemaligen Arbeiterstadtteils farbig.

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