"Großes Päckchen zu tragen"

Wenn Kinder leiden: Wo Jugendsozialarbeit an Schulen um Forchheim hilft

18.8.2021, 06:03 Uhr
Natalie Grünert im Gespräch mit einem Grundschüler. Die Sozialpädagogin mit Schwerpunkt Jugendsozialarbeit an Schulen unterstützt Kinder an der Forchheimer Martinschule.

© Eduard Weigert Natalie Grünert im Gespräch mit einem Grundschüler. Die Sozialpädagogin mit Schwerpunkt Jugendsozialarbeit an Schulen unterstützt Kinder an der Forchheimer Martinschule.

Natalie Grünert sitzt an ihrem Schreibtisch in der Forchheimer Martinschule. Plötzlich geht die Tür auf, ein Kind kommt hereingestürmt, aufgelöst, lehnt sich an die Tür und sagt weinend: "Ich musste jetzt einfach zu Ihnen." Erstmal beruhigt sie das Kind. Sie ist Sozialpädagogin und hat sich weitergebildet im Bereich Jugendsozialarbeit an Schulen, kurz JaS, und ist an der Martinschule tätig.

"Es ist ein freiwilliges Angebot", erklärt sie. Manche Kinder kommen von selbst, weil sie Unterstützung wollen. "Und manchmal dauert es eine Zeit, bis die Kinder Vertrauen haben und sich öffnen." Nach Absprachen mit Lehrern kommt sie im Klassenzimmer vorbei und fragt, ob Kinder zum Reden zu ihr kommen möchten. Zudem ist sie im Austausch mit Lehrern und Eltern, beobachtet in den Pausen, ob es Konflikte oder Auffälligkeiten gibt.

Konflikte an der Grundschule: Fälle an der Grenze zur Körperverletzung

Sie hat einen eigenen Raum für die JaS, mit Regalen voller Bücher und Spiele, einem Sofa und Bildern, die Kinder gemalt haben, an den Wänden. Weiter hinten ein Besprechungstisch und ihr Schreibtisch. Der weiße Plüschhund Flecki sitzt auf dem Sofa. Er ist ihr eine große Hilfe: Die Kinder können ihn streicheln oder ihm Sachen erzählen. "Das erleichtert es ihnen. Neulich konnte ein Kind nur mit Flecki beruhigt werden."

"Der Bedarf nach Jugendsozialarbeit ist groß", sagt sie. Das war zuletzt auch Thema im Forchheimer Stadtrat. Ihre Stelle an der Martinschule wird nun von 75 auf 100 Prozent aufgestockt. Schulleiterin Kerstin Friedrich beschrieb in einem Bericht die Lage und wie viele Kinder aufwachsen.

Das reiche von zerrütteten Verhältnissen oder Trennung der Eltern, Überforderung in der Familie, über eine enge Wohnsituation und eingeschränkte finanzielle Situation bis hin zu Gewalt in der Familie oder Alkohol- und Drogenproblemen. In den Pausen gebe es häufig Konflikte zwischen einzelnen Schülern.

"Zum Teil sind es Fälle, die an der Grenze zur Körperverletzung sind." Manche spielen PC-Spiele, die eigentlich erst ab 18 Jahren erlaubt sind. In einer Drogerie in der Forchheimer Innenstadt klauen Schüler. "Auch im Klassenzimmer", weiß Grünert.

Frühzeitig helfen und Zeit für die Kinder, gehört zu werden

"Die Jugendsozialarbeit setzt früh an, bevor das Kind so richtig in den Brunnen gefallen ist", sagt Stephanie Kaufmann, Fachbereichsleitung Kinder, Jugend und Familie bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo) und zuständig für mehrere JaS-Stellen. Der Schritt zum Jugendamt fällt Eltern erstmal schwer. Jugendsozialarbeit sei niedrigschwelliger.

Stephanie Kaufmann, Fachebereichsleitung Kinder, Jugend und Familie bei der Arbeiterwohlfahrt Forchheim.

Stephanie Kaufmann, Fachebereichsleitung Kinder, Jugend und Familie bei der Arbeiterwohlfahrt Forchheim. © Eduard Weigert

Die JaS schaffe "Zeit für die Kinder, gehört zu werden und Probleme anzugehen, bevor sie sich stärker auf den Schulerfolg auswirken". Klassenlehrer hätten nicht die Zeit, so individuell auf die Kinder und persönliche Herausforderungen im privaten Umfeld einzugehen.

Und die Jugendsozialarbeit vermittelt Kontakt zu Beratungsstellen. Das könne mit einer Drogenproblematik der Eltern zusammenhängen, psychotherapeutischen Angeboten nach Missbrauchsfällen oder psychischen Erkrankungen, finanziellen Notlagen oder weiterem Betreuungsbedarf bei Alleinerziehenden.

Schweigepflicht ist wichtiger Bestandteil

Ein sensibler Bereich: "Ich habe eine Schweigepflicht. Wenn sich die Kinder mir anvertrauen, ist das streng vertraulich", erklärt Grünert. Die Schweigepflicht ende aber bei Kindswohlgefährdung. Unterschieden wird zwischen kurzfristigen oder längeren Maßnahmen.

"Bei mehr als drei Treffen sprechen wir vom Case Management und holen spätestens da die Eltern ins Boot, die auch bezüglich der Schweigepflicht entscheiden." Die Eltern bestimmen, ob sich die JaS-Kraft mit Lehrern austauschen darf oder mit einem Therapeuten oder einer Ärztin des Kindes. Dass Eltern zu Kindern sagten, "wir wollen nicht, dass du zur Frau Grünert gehst", käme äußerst selten vor.

Sie hat feste Sprechzeiten, es können aber auch individuell Termine vereinbart werden. Sie macht auch Hausbesuche oder begleitet mal auf dem Schulweg. Plüschhund Flecki hat in der Corona-Zeit Briefe an die Kinder verschickt.

Manche tun sich schwer, ihre eigene Gefühlslage zu erkennen

Eine Besonderheit: Der Migrationsanteil an der Martinschule ist hoch. "Manche Kinder haben auch durch die Sprachbarriere Schwierigkeiten sich zu bestimmten Dingen zu äußern." Und: Einige tun sich schwer, über ihre Gefühlswelt zu sprechen. "Gerade Jungs haben da Schwierigkeiten. Manche haben weder gelernt, ihre eigenen Gefühle zu erkennen, noch diese zu äußern." Manche neigten zu Gewalt, treten andere einfach aus einer Wut heraus. "Sie müssen erst lernen, zu anderen Kindern zu sagen: Du ärgerst mich. Stop."

"Vom Konzept der JaS bin ich sehr überzeugt. Die Kinder brauchen diese Unterstützung einfach", sagt Stephanie Kaufmann. Gerade in der Corona-Pandemie würden Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien noch weiter abgehängt. "Die Schattenseite ist, dass es für uns als Wohlfahrtsverband schwierig ist, den Eigenanteil von zehn Prozent an einer Stelle zu stemmen", sagt sie.

Träger haben sich zusammengeschlossen

Die 38-Jährige hofft, dass sich daran vielleicht bald etwas ändert. "Die Träger haben sich zusammengeschlossen und einen Antrag beim Jugendhilfeausschuss gestellt." Er werde voraussichtlich im Oktober besprochen. "Nachdem ein Wohlfahrtsverband keine Gewinne erzielt, ist es nur bis zu einem gewissen Maß möglich, Anstellungsträger für JaS zu sein. Es gibt auch bereits Träger, die deshalb keine neuen Stellen aufnehmen."

"Du hast mir geholfen, mich besser zu benehmen und meine Noten zu verbessern", schreibt ein Kind. Ein anderes: "Frau Grünert hat uns viel geholfen, wenn wir bropleme hatten." Und ein weiteres: "Frau Grünert ist nett, Frau Grünert hilft, Frau Grünert ist Hoffnung für uns."

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