Forscherin: "Wer Angst schürt, spielt Terroristen in die Karten"

2.8.2016, 15:45 Uhr
Flüchtlinge sorgen in Deutschland und Europa immer wieder für hitzige Diskussionen.

© Winckler Flüchtlinge sorgen in Deutschland und Europa immer wieder für hitzige Diskussionen.

Frau Bendel, mit flotten Sprüchen gegen Migranten kann man derzeit in Europa politisch punkten oder sogar ein ganzes Land aus der EU herauslösen, siehe Großbritannien. Wie konnte es so weit kommen?

Petra Bendel: Das ist besorgniserregend, denn der Schutz von Flüchtlingen ist ein hohes Gut und ein wichtiges Völkerrecht. Rechtspopulisten aber befeuern überall in Europa bestehende Ängste in der Aufnahmegesellschaft und stigmatisieren Einwanderer und Flüchtlinge. Ängste und Konflikte zu schüren, ist aber gerade das Ziel der Terroristen. Daher brauchen wir mehr Klarheit und Sachlichkeit in der Debatte.

Sachlichkeit fällt schwer in Zeiten, in denen quasi jeden Tag Menschen durch Terror zu Tode kommen. Wie kann man den Ängsten begegnen?

Bendel: Die Sorge um die jüngsten, ganz unterschiedlich motivierten Attentate ist begründet und verständlich. Integration ist durchaus mit Schwierigkeiten verbunden. Umso wichtiger ist zu betonen, dass die allermeisten Flüchtlinge zu Recht bei uns Schutz suchen, ja, gerade vor Krieg und Terrorismus fliehen. Die große Mehrheit will sich integrieren und ist bereit, auch hohe Hindernisse zu überwinden - das haben wir unlängst bei einer Befragung herausgefunden. Diese Menschen unter Generalverdacht zu stellen, statt sie zu unterstützen, ihren Weg zu finden, ist widersinnig und dem sozialen Frieden abträglich.

Viele Menschen haben den Eindruck, dass der Staat die Kontrolle verloren hat. Ist denn dieser Eindruck falsch, wenn man sich überlegt, dass das Dublin-III-Abkommen faktisch tot ist und im letzten Jahr Hunderttausende Flüchtlinge unregistriert nach Deutschland gekommen sind? Wurde da nicht permanent Recht gebrochen?

Bendel: Nein. Die vorherrschende Rechtsauffassung lautet, dass die Bundesrepublik kein Recht gebrochen hat: Zwar besagt das Dublin-System, dass im Prinzip ein Asylantrag in demjenigen europäischen Land zu stellen ist, das ein Schutzsuchender zuerst betritt. Aber der Kern dieser Dublin-III-Verordnung besteht darin zu gewährleisten, dass Flüchtlingen überhaupt irgendwo Schutz zuteilwird. In dem Moment, in dem letztes Jahr andere EU-Staaten die rechtsstaatlichen Standards bei der Behandlung von Flüchtlingen gebrochen hatten, hat Deutschland sein Selbsteintrittsrecht wahrgenommen, um genau diesen Schutz zu garantieren.

Und dabei hat Berlin die Kontrolle verloren.

Die Erlanger Migrationsforscherin Petra Bendel.

Die Erlanger Migrationsforscherin Petra Bendel. © Michael Fischer

Bendel: Dieser Eindruck war kurzfristig wohl nicht ganz falsch, weil die Aufnahme von Flüchtlingen eine Eigendynamik ausgelöst hat, mit der niemand gerechnet hatte - und auch nicht rechnen konnte. Nun ist es allerdings an der Zeit, eine europäische Lösung herbeizuführen. Hier müssen wir dringend weiterkommen, wenn wir den Rechtspopulisten nicht noch mehr Zulauf bescheren wollen.

Wie sähe so eine solche europäische Lösung aus?

Bendel: Erstens sind die Erstaufnahmestaaten stärker zu unterstützen, die als Anrainerstaaten ja das Gros der Flüchtlinge aufnehmen. Sie können Versorgung und Schulbildung nicht allein stemmen - ein wichtiger Faktor für die Weiterwanderung aus Jordanien oder dem Libanon. Die EU und die internationale Gemeinschaft haben erheblich mehr humanitäre Hilfe versprochen, aber die Gelder fließen nur zäh, die Staaten sind säumig, man muss sie öffentlich anprangern. Zweitens brauchen wir eine vernünftige Flüchtlingspolitik im Innern der EU. Das betrifft die erwähnte faire Verteilung, aber auch endlich eine wirksame Angleichung der Standards bei Aufnahme und Asylverfahren.

Die meisten Flüchtlinge, die hier ankommen, sind junge Männer – weil der Weg sehr beschwerlich ist. Wäre es nicht sinnvoll, die europäische Grenze komplett dichtzumachen, aber großzügige Kontingente aus Staaten wie der Türkei einreisen zu lassen und dabei darauf zu achten, dass auch Frauen oder Kinder mit Familien nach Europa kommen? Das würde doch die darwinistische Komponente aus dem System nehmen...

Bendel: Richtig. Die EU muss unbedingt eine Alternative zu den derzeitigen chaotischen, gefährlichen Routen schaffen, bei denen die Flüchtlinge von Schleppern abhängen. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch - humanitäre Korridore, humanitäre Visa, koordinierte und ausgebaute Neuansiedlungsprogramme, mithin: kontrollierte, sichere und legale Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge anstelle der unsicheren und unkontrollierten Wege, die sie jetzt vorfinden. Das ist unabdingbar, um dem Sterben im Mittelmeer ein Ende zu machen, und es macht auch mit Blick auf die Sicherheitsbedenken und eine stärkere Kontrolle der Einwanderung Sinn.

Wenn es diese legalen Wege gäbe, müsste Europa dann nicht eine Obergrenze definieren? Es gibt schließlich Grenzen dafür, was ein Staat zu leisten vermag. Das hat man ja auch in Deutschland gesehen, man denke nur an die Unterbringung.

Bendel: In einer Situation wie 2015, als sehr viele Menschen gleichzeitig Schutz suchten, war unser Asylsystem überlastet. Eine Möglichkeit, dies künftig in Notsituationen zu vermeiden, besteht in der Einführung von kollektiven Aufnahmeverfahren, etwa Kontingenten, die wir auch im Jugoslawienkrieg hatten - selbstverständlich ohne das individuelle Recht auf Asyl zu untergraben. Eine andere Art von Kontingenten besteht in der Einrichtung humanitärer Aufnahmeprogramme, wie wir sie ja zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien hatten. Tatsächlich sind nach dem Jugoslawienkrieg viele Menschen wieder zurückgegangen, als die Situation sich dort verbessert hatte. Ich gehe davon aus, dass auch viele Syrer zurückkehren würden, sobald sie könnten.

Würden Sie sagen, dass die Aufnahmefähigkeit Europas begrenzt ist?

Bendel: Selbstverständlich. Sie sehen ja, wie sich die Bevölkerung polarisiert zwischen denjenigen, die sagen "Wir können noch mehr stemmen", und den anderen, die entgegenhalten: "Das wollen wir aber nicht." Da müssen wir natürlich aufpassen, was wir leisten können - und wollen. Das muss immer wieder Gegenstand politischen Aushandelns sein.
 

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