Accidents will happen

22.7.2014, 10:30 Uhr
Gibt einer Verletzten literarisches Geleit: Gisela Lipsky.

© Thomas Scherer Gibt einer Verletzten literarisches Geleit: Gisela Lipsky.

Im ersten Moment spürte sie gar keinen Schmerz. Dann sah sie, dass ihr Arm unnatürlich verdreht war. Er stand in einem Winkel vom Körper ab, der anatomisch nicht vorgesehen war. Ella wurde übel. Reflexartig riss sie den Arm an sich, und damit kam der Schmerz. Zum Glück war sie mitten in Fürth gestürzt. Nicht etwa bei einer Tour durch die menschenleeren Weiten der Mongolei, sondern unter Menschen. Einer wählte die 110, ein zweiter schob ihr seine Jacke unter den Kopf und blieb an ihrer Seite, bis der Krankenwagen kam. Binnen einer Stunde lag Ella im Krankenhaus, den Arm in Gips.

Es war die heißeste Woche des Jahres. Drückende Schwüle lag wie eine Warmhaltehaube über der Stadt, die Krankenschwestern teilten Leintücher anstelle der Bettdecken aus und öffneten erst morgens um vier, wenn die Hitze ein wenig nachließ, die Fenster. Ella litt. Sie vertrug die Schmerzmittel nicht, hatte Angst vor jeder falschen Bewegung und wälzte gallebittere Gedanken. Sie hatte sich immer für hart im Nehmen gehalten. Von wegen. Was für ein Weichei sie war!

Natürlich war es unsinnig, nach dem Warum zu fragen, doch Ella konnte nicht anders. Ihre grauen Zellen waren zu Matsch geronnen und entzogen sich ihrem Zugriff. Warum hatte sie sich an diesem Morgen überhaupt aufs Fahrrad geschwungen? Sie hatte eigentlich gar keine Lust gehabt und hatte es nur getan, um die Freundin, mit der sie verabredet war, nicht zu enttäuschen. Das war doch eine Warnung gewesen, oder? Und warum war sie gestürzt? Was sollte ihr das sagen – dass sie zu blöd zum Radfahren war? Ella war nie sehr sportlich gewesen. Es hatte sie stolz gemacht, dass sie mit den Jahren immer fitter geworden war und den inneren Schweinehund ganz gut im Griff hatte. Aber Hochmut war eine der sieben Todsünden, das hatte sie dummerweise vergessen, und das war nun die Strafe dafür.

Himmel, wo war der Ausschalter für solche Gedanken? Es musste am Schock, der Hitze und den Schmerzen liegen, dass sie ihn nicht fand. Am schlimmsten war, dass es ihr zweiter Unfall binnen eines Jahres war. Irgendwo hatte sie gelesen, dass es „Unfallpersönlichkeiten“ gab, die häufiger als andere in Unfälle verwickelt waren. Diese Unglücksraben verhielten sich unweigerlich so, dass es zu Unfällen führte. Das hieß, sie waren selbst schuld daran. Wenn das stimmte, würde es munter so weitergehen. Dann konnte sie sich ja gleich die Kugel geben.

Wie beim letzten Mal hörte Ella auch jetzt wieder erschütternde Geschichten. Jeder kannte jemanden, der schon mal einen schlimmen Unfall gehabt hatte, manchmal mit bleibenden Folgen. Bekannte machten sie auf steife Finger und andere Beeinträchtigungen aufmerksam, die ihr bis dahin nie aufgefallen waren. Es war vielleicht dumm, aber Ella fand Trost darin, dass sie mit ihrem Unglück nicht alleine war. „Accidents will happen“, hatte Elvis Costello mal gesungen. Unfälle passierten eben.

Trotzdem wäre es leichter zu ertragen, wenn das Ganze einen Sinn hätte, wenn sie etwas daraus lernen könnte. Nicht die gallebittere Moral, mit der sie sich in den schwülen Krankenhaus-Nächten gequält hatte. Das mit den sieben Todsünden war Unsinn, schließlich gehörte auch die Faulheit dazu. Wenn schon Bibel, dann diese Stelle: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Tatsächlich brachte ihr Unglück die besten Seiten ihrer Familie und Freunde zutage. Ihre Anteilnahme, die mitgebrachten Blumen, Bücher und selbst gepflückten Erdbeeren, die guten Gespräche erfüllten Ella mit tiefer Freude und Dankbarkeit.

Es hatte auch etwas Gutes, dass so ein Unfall einen aus dem Fluss des Alltags riss, wie alle unvorhersehbaren Ereignisse. Das bot ihr die Gelegenheit zum Innehalten, zur Besinnung. Was heißt „Gelegenheit“, es zwang sie dazu, auf schmerzhafte Weise – vielleicht, weil sie sich im Fluss des Alltags zu wenig Zeit dafür genommen hatte? Aber hätte das unvorhersehbare Ereignis nicht auch ein Lottogewinn sein können? Halt, da schlich sich schon wieder das Hadern ein! Schluss damit. Shit happens, besagte Murphys Gesetz, im Leben ging immer wieder mal was grundlos schief.

Wenn sie etwas daraus lernen konnte, dann dies: Wie zerbrechlich Menschen doch waren. Dass man nicht genug wertschätzen konnte, halbwegs gesund und schmerzfrei zu sein. Wie gut es war, Freunde zu haben. Und natürlich würde sie wieder Radfahren. Aber vielleicht auch mal absagen, wenn ihr nicht danach zumute war.

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