Ägypten: „Kriminelle nutzen die Lage aus“

31.1.2011, 11:00 Uhr
Ägypten: „Kriminelle nutzen die Lage aus“

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Herr Younis, der Anschlag von Luxor 1997 ist noch in Erinnerung. In der Neujahrsnacht nun der Anschlag auf Christen in Alexandria und jetzt der Volksaufstand: Entwickelt sich Ägypten zu einem Pulverfass?

Younis: Das sehe ich nicht. Die exponierte Lage des Landes an der Nahtstelle zwischen Europa, Asien und Afrika macht Ägypten zu einem Brennpunkt, aber zu keinem Pulverfass. Die Demonstrationen waren anfangs demokratisch, friedlich und legal. Kriminelle Kräfte haben sie aus dem Ruder laufen lassen. Völlig unverständlich ist für mich, weshalb sich die Polizei, die anfangs ja die Demonstrationen geschützt hat, am Mittwochabend zurückgezogen hat. Für Touristen besteht meiner Ansicht nach keine Gefahr, weil die Proteste auf die Großstädte beschränkt sind und nicht auf die Hotels übergreifen.

Wie reagieren Ägypter in Deutschland auf die Ereignisse in ihrer Heimat?

Younis: Alle sind sehr beunruhigt. Ich habe am Samstagabend viele Telefongespräche geführt. Auch mir sind die Tränen gekommen. Das darf doch nicht passieren, dass ein Land ohne Polizeischutz dasteht und Verbrecher Reviere stürmen und Waffen erbeuten können. Diese Banditen sind auch in ein Krankenhaus gestürmt, dem unser Verein vor drei Jahren erst 3000 Euro für medizinische Geräte gespendet hat. Hier werden unter anderem krebskranke Kinder behandelt. Die Eindrinlinge hatten es auf verwertbare Dinge wie die Klimaanlage abgesehen. Auch Privathäuser werden gestürmt, und die Anwohner bilden Bürgerwehren.

Wie beurteilen Sie als ehemaliger Sozialdemokrat und Linker die soziale Lage in Ägypten?

Ägypten: „Kriminelle nutzen die Lage aus“

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Younis: Die Probleme: Arbeitslosigkeit, Korruption und mangelnde Zukunftsperspektiven für die Jugend, unterscheiden sich kaum von den hier bekannten. Nur ist die Armut ausgeprägter. Die Löhne liegen oft unter dem Existenzminimum. Es gibt kein Hartz IV. Verwandte müssen im Notfall helfen. Dabei ist Ägypten reich an Bodenschätzen. Um den Reichtum besser zu verteilen, sind Reformen nötig. Die uralte Verfassung muss demokratischer werden und es muss mehr investiert werden, damit neue Arbeitsplätze entstehen. Hier sehe ich auch das Ausland in der Pflicht, für Stabilität zu sorgen. Denn wenn in Ägypten ein Machtvakuum entsteht, wird dieses Loch nicht mehr so schnell zu schließen sein.

Kann Ägypten als fallender Dominostein auch Nachbarländer mitreißen?

Younis: Die Ereignisse können sogar weltweite Folgen haben. Ich glaube aber nicht, dass zwischen den aktuellen Aufständen ein Zusammenhang besteht. Unruhen in Ägypten hat es schon immer gegeben, auch unter Nasser und Sadat. Die jungen Leute haben doch heute alle Computer und wissen, wie gut man in anderen Länder leben kann. Sie sehen in Mubarak auch nicht mehr den Held des Oktoberkriegs 1973.

Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass religiöse Fanatiker jetzt an die Macht kommen?

Younis: Kräfte wie die Moslembruderschaft sind ähnlich gut organisiert wie die Neonazis in Deutschland. Aber sie werden niemals an die Macht kommen, weil das Volk sie nicht will und das Militär den einigermaßen demokratischen Kurs stützt. Das Militär steht auf der Seite des Volkes und arbeitet auch nicht gegen die Polizei.