"Antigone" in der Kofferfabrik: Götter, habt doch Mitleid!

3.3.2020, 12:00 Uhr

© Hans-Joachim Winckler

Wer hat Recht? "Ich!" – "Nein, ich!" – "Ich stehe im Einklang mit Recht und Ordnung." – "Das glaubst auch nur du, ich aber handle im Einverständnis mit den Göttern." Wer also hat Recht?

Der Streitfall Antigone versus Kreon beschäftigt die Bühnen und Tribunale seit 2400 Jahren. Denn was der athenische Tragöde Sophokles in seiner "Antigone" aufs Äußerste zugespitzt ausbreitet, ist viel mehr als bloß der Kampf zweier unversöhnlicher Streithähne. Es ist das Paradox zweier Auffassungen von Gerechtigkeit, die beide über stichhaltige Argumente verfügen.

Zur Vorgeschichte: Zwei Königssöhne sollten einträchtig über Theben herrschen, doch es kam zum Konflikt. Nach kurzer Belagerung töteten sich beide Brüder im Zweikampf. Der neue Herrscher Kreon spendiert dem einen Bruder, dem Verteidiger Thebens, ein ehrenhaftes Begräbnis, sein Herausforderer jedoch soll unter sengender Sonne auf freiem Feld verrotten als Aas, den Hunden und Geiern zum Fraß. Wer ihn zu bestatten wagt, ist dem Tode verfallen.

 

Jedes Wort schlägt Wunden

 

Deren Schwester Antigone setzt sich nun über das Verbot hinweg, wird ertappt und steht dem Herrscher Rede und Antwort. Eine hochdramatische Szene, die umso besser funktioniert, je unterkühlter sie dargeboten wird, da jedes Wort und jedes Argument für sich allein schon Wunden schlägt.

Für heutige Zuschauer ist der Fall klar: Wer die Macht hat, hat immer Unrecht, das Publikum steht stets auf der Seite der Schwachen. Im TKKG sowieso. Doch so einfach machen es sich TKKG-Chef Markus Nondorf und Doris Hanslbauer in ihrer spartanisch ausgestatteten Inszenierung in der Kofferfabrik nicht.

Kreon ist kein Tyrann, der im Bewusstsein seiner Willkür nach Gusto entscheidet. Seine Hybris besteht gerade darin, dass er sich ruhigen Gewissens im Einklang mit dem Gesetz, mit Recht und Ordnung weiß: "Nie soll ein schlechter Mensch mehr Ehre haben als ein guter." Nondorf spielt ihn als einen gütig salbadernden Landesvater mit granitenem Kern unter jovialer Schale, in seiner Perspektive genauso rechtschaffen und unverrückbar, wie Antigone sich in ihrer Argumentation präsentiert.

Doch in ihrer Persönlichkeit erscheint Esther Sambales Antigone als Kreons Gegenteil: Trotz ihrer Femme-fatale-Garderobe aus rotem Stoff und Leopardenfellmuster offenbart sie unter ihrem selbstbewussten Äußeren eine zarte, verletzte Seele. Ihren Standpunkt vertritt sie konsequent bis zum bitteren Ende. Trotz Antigones großem Monolog angesichts des Grabes interessiert Sophokles sich mehr für Kreon, der sich allen diplomatischen Vermittlungen widersetzt, der erst seinem Sohn (Philipp Abel), dann dem Chorführer (Sandra Bauer), schließlich dem Seher Teiresias (Lukas Münich) trotzt und sich dabei immer auswegloser in die Sackgasse der Macht um ihrer selbst willen verrennt. Bis die Katastrophe ihren Lauf nimmt.

Ist "Antigone" nun eine Reliquie aus den Katakomben des Welttheaters? Nein, hier, unter den Fittichen des TKKG, ist sie immer noch und schon wieder brandaktuell. Wenn eine Kapitänin zur See sich über Recht und Gesetz erhebt und Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet, wenn Schüler den Unterricht schwänzen und gegen die Schulordnung verstoßen, weil aus ihrer Sicht die Tonangeber verantwortungslos handeln, die Vorbilder also ihre Vorbildlichkeit einbüßen, dann steht Antigone wieder vor den Schranken des Gerichts. Und mit ihr die Ankläger.

"Erkenne dich selbst": Die Leuchtschrift flimmert an der Wand, wann immer der Chor seine Gedanken raunt.

"Antigone": Theater in der Kofferfabrik (Lange Straße 81). Weitere Termine: 9.-11. und 17.-19. April, jeweils 19.30 Uhr. Karten mit ZAC-Rabatt in der FN-Geschäftsstelle (Schwabacher Straße 106, Tel. 2 16 27 77).

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