Cadolzburger Streicher-Hof: Fluchtpunkt für Shoa-Überlebende

23.11.2020, 16:00 Uhr
Cadolzburger Streicher-Hof: Fluchtpunkt für Shoa-Überlebende

© Repro: www.nurinst.org

Nach Kriegsende beschlagnahmte die US-Militärregierung das Anwesen und stellte es Überlebenden der Shoa zur Verfügung. Eine über dem Eingangstor angebrachte Inschrift machte den Wechsel weithin sichtbar. "Bruchim Habajim" (Herzlich Willkommen) war dort in hebräischen Lettern zu lesen.

Einreise verboten

Nach Kriegsende irrten die wenigen jüdischen Überlebenden, die den Vernichtungslagern entkommen waren, durch das zerstörte Europa. Sie hatten nur einen Wunsch: das Land der Täter so schnell wie möglich zu verlassen und in Palästina einen jüdischen Staat aufzubauen. Doch dort regierte noch die britische Mandatsmacht, die den Juden die Einreise verweigerte.

Die durch das jahrelange Martyrium in den NS-Lagern gequälten Menschen brauchten eine vorübergehende Bleibe. Im Sommer 1945 ordnete die Besatzungsmacht daher den Aufbau jüdischer DP (Displaced Persons)-Lager für die Entwurzelten, Verschleppten und Geschundenen an. Während andernorts in Franken Tausende in großen Camps untergebracht wurden, zählte der Streicher-Hof zu den über 40 kleineren Lagern. Als jüdische Bauernschule wurde dort ein sogenannter Trainingskibbuzim eingerichtet.

Ideales Ausbildungscamp

Die Kibbuzniks nannten ihr neues Zuhause Kibbuz Nili, eine Abkürzung des hebräischen Satzes "Nezach Israel lo Jeschaker", zu deutsch etwa: Die Ewigkeit des Volkes Israel ist nicht zu verleugnen. Als die Juden den Hof übernahmen, entdeckten sie ein Schild mit der Aufschrift: "Ohne Lösung der Judenfrage gibt es keine Lösung der Weltfrage."


Camp am Finkenschlag: Eine jüdische Stadt in Fürth


Diese Tafel wurde nicht entfernt. Für die Kibbuzniks war diese Aussage mit der Einrichtung eines jüdischen Gemeinwesens verbunden. Nur durch die Gründung des Staates Israel konnte die "Judenfrage" im Sinne der Shoa-Überlebenden gelöst werden.

In Palästina warteten unfruchtbare Landstriche darauf, in Äcker umgewandelt zu werden; aus Sümpfen sollte urbares Gebiet entstehen. Der Pleikershof war ein ideales Ausbildungscamp. Er umfasste über 80 Hektar landwirtschaftliche Fläche und Weideland für die Milchkühe. Zwei deutsche Landwirte betreuten und leiteten die Kibbuzniks an.

Wie melkt man Kühe?

Kaum einer der – vorwiegend aus Osteuropa stammenden – Juden hatte vor der Shoa Berührung mit Ackerbau und Viehzucht. "Wir haben im Feld und in den Ställen gearbeitet. Ich habe dort gelernt, Kühe zu melken. Wir alle haben gearbeitet, um zu lernen. Wir wollten nach Israel um dort Landwirtschaft zu betreiben", erinnerte sich Esther Barkai, die im Warschauer Ghetto kämpfte und das KZ Majdanek nur knapp überlebte.


Nie wieder Auschwitz: Ein Gespräch mit Gisela Blume


Chaim Shapiro, den Soldaten der Roten Armee aus dem Konzentrationslager Auschwitz befreiten, war einer der ersten jüdischen Bewohner des Pleikershofs. "Wir haben erst einmal Ordnung gemacht" berichtete er, als er ihn mit einer kleinen Gruppe übernahm.

Dabei bemerkten die Kibbuzniks schnell, dass ihr neues Heim nicht irgendein Gutshof war. Neben einigen Ausgaben des Hetzblatts "Der Stürmer" sowie Exemplaren von Hitlers "Mein Kampf" fanden sie noch allerlei Nazi-Propaganda sowie die beiden Hunde von Streicher vor: einen Bernhardiner und einen schwarzen Neufundländer.

Trotz dieser Erinnerungen an die dunkle Vergangenheit war die Stimmung auf dem Kibbuz optimistisch. Ausdruck für den Lebenswillen und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft sind einige Eheschließungen und Geburten.

Blick auf die Zukunft

Darunter etwa Mirjam, die Tochter von Chaim und Levkadia Shapiro, die sich recht bald mit Streichers Bernhardiner "Nero" anfreundete. Das junge Paar war im Frühjahr 1946 getraut worden. "Wir haben unterschrieben, sind zusammengezogen, haben ein Kind gemacht und sind nach Israel gegangen", erinnerte sich Chaim, der im März 1948 illegal nach Erez Israel (Palästina) einreiste.

Cadolzburger Streicher-Hof: Fluchtpunkt für Shoa-Überlebende

© Repro: www.nurinst.org

"Unser Blick war auf die Zukunft gerichtet", beschrieb auch Jacob Hennenberg die damalige Stimmung. Er war als einer der wenigen in die USA emigriert. Die große Mehrheit wollte jedoch ins Gelobte Land, sie fieberte dem Tag der Abreise entgegen.

Nachdem die Kibbuzniks ihre landwirtschaftliche Grundausbildung absolviert hatten, machten sich die "Palästinasiedler" heimlich auf den Weg. "Von einem Tag auf den anderen waren ganze Gruppen verschwunden", weiß Jacob Hennenberg zu berichten.

Eine legale Einwanderung ins Land ihrer Väter war durch die Briten weiterhin verboten. Doch die "Bricha" (Flucht), eine jüdische Selbsthilfeorganisation, brachte die Menschen auf verschlungenen Wege in südeuropäische Hafenstädte.

In Zypern gestrandet

Viele hatten jedoch kein Glück. Die Engländer fingen ihre Schiffe ab und sperrten die Passagiere in mit Stacheldraht umzäunte Lager auf Zypern. Auch Esther Barkai und Abraham Mathias verbrachten einige Monate in einem solchen Internierungscamp. Erst kurz vor Gründung des Staats Israel im Mai 1948 durften sie die Insel verlassen.


Spät, aber doch: Fürther Rabbiner bekommt Gedenktafel


"Israel ist die Heimat aller Juden", stellte Chaim Shapiro nachdrücklich fest, der Jahrzehnte im Kibbuz Mischmar HaScharon in der Nähe von Netanja lebte, "aber der Pleikershof war unser Weg zur Heimat, Kibbuz Nili war der Korridor, der nach Israel führte."

Die jüdische Bauernschule auf dem Streicher-Hof existierte rund drei Jahre. Im Oktober 1948 lebten dort noch 28 Personen. Nach Auflösung zum Jahresende zogen einige Kibbuzniks ins nahegelegene Fürth und wurden dort Mitglieder der Jüdischen Gemeinde.

1 Kommentar