Das Gesangbuch hilft in allen Lebenslagen

16.1.2017, 13:30 Uhr
Das Gesangbuch hilft in allen Lebenslagen

© Foto: Hans-Joachim Winckler

Was schenkt man Jugendlichen zur Konfirmation? Wo heute das neueste Smartphone oder eine Playstation angesagt ist, war bis vor hundert Jahren ein Gesangbuch obligatorisch. Genauer: Das Gesangbuch, das seinen Besitzer durchs ganze Leben begleitete und Trost und Zuspruch für alle Lebenslagen bereithielt.

Damit der Konfirmand sah, dass dies eine ganz persönliche Gabe war, ließ sich der Pate nicht lumpen. Das Buch selbst war zwar industriell gedruckt, doch der Einband war vom Buchbinder ganz individuell gestaltet. Der Fürther Unternehmensberater Karl Martz hat vor 30 Jahren begonnen, alte evangelische Exemplare zu sammeln. „Zuerst habe ich auf Flohmärkten und auf Büchermessen gesucht, heute schaue ich ins Internet“, erzählt der Sammler. „So furchtbar teuer waren die Bücher früher nicht, aber heute haben die Preise ganz schön angezogen.“

Das liegt daran, dass die Gesangbücher – meist aus dem 19. Jahrhundert – Unikate sind. Tatsächlich wirken die 101 Gesangbücher aus Martz’ Sammlung, die in den Vitrinen im Gemeindehaus der Erlöserkirche ausliegen, bestens erhalten. Grund: Die Beschenkten nahmen sie eben nicht in die Kirche mit— dafür gab es in Leder gebundene Bücher — sondern bewahrten sie sorgsam zuhause auf.

Und was gibt es da alles zu bestaunen: Auf einem Plättchen aus weißem Bakelit läuten zwei Engelchen die Kirchenglocke. Kreuz, Herz und Anker als Symbole für Glaube, Liebe und Hoffnung zieren als Perlmutt, Blattgold oder als Metallziselierung den Einband. In Golddruck mahnen Sprüche wie „Wandle vor Gott und sei fromm“, „Habe Gott vor Augen und im Herzen“ oder „Rufe mich an in der Not“. Selbstverständlich hält eine metallene Schließe das Buch zusammen, auch Schatullen mit rosa Samt schützen das Büchlein.

Noten fehlen

Und innen drin? Auf einem Stahlstich, der Jesus inmitten der Kinderchen zeigt, oder Luther, der grimmig auf die aufgeschlagene Bibel deutet, folgen bis zu 1000 Lieder. Allerdings ohne Noten. Über den kleingedruckten Liedtexten steht lediglich der Hinweis „Melodie nach dem Lied XY“.

„Zum einen spart das Platz, zum anderen hatten die Kinder in der Volksschule und im Konfirmationsunterricht so viele Lieder auswendig gelernt, dass die Melodien verinnerlicht waren“, weiß Karl Martz.

Die Lieder sind thematisch geordnet: sie dienen zur seelischen Erbauung am Morgen und am Abend, helfen bei Gewitter, Dürre und Ernte, bei der Einfahrt ins Bergwerk, bei Krieg und Frieden, Seuchen und Krankheiten, bei Hochzeit, Taufe und Geburtstag. Aber auch für Witwen und Waisen, ja sogar für Kinder und den Schulbesuch, gibt es Versionen. Und natürlich fürs letzte Stündlein und für danach — für die Hoffnung auf das ewige Leben.

Damit nicht genug, beinhaltete so ein evangelisches Gesangbuch auch noch Luthers kleinen Katechismus, das Augsburger Bekenntnis, sowie Gebete und Auslegungen bekannter Bibelstellen. „Für die Menschen damals war das Gesangbuch wichtiger als die Bibel, denn seine Texte wurden als Übersetzung der Bibel in begreifbares Deutsch wahrgenommen“, erläutert Martz.

Seine Blütezeit erlebte der Gesangbuchschmuck im 19. Jahrhundert, vor allem ab 1870 mit Beginn der Gründerzeit mit ihrem Historismus. Als Zentren des Gesangbuchdesigns kristallisierten sich die Messestädte Leipzig und Dresden sowie Berlin mit seinem gutverdienenden Bürgertum heraus. Deren Illustratoren und Buchgestalter machten die Vorgaben, nach denen sich deutschlandweit Buchbinder und Designer richteten.

Dem überladenen Historismus folgte zur Jahrhundertwende der Jugendstil mit zierlichen Girlanden, Blümchen, Ranken und ätherischen Engelchen. Solche Gesangbücher dürften vor allem Mädchen angesprochen haben. Nach dem Ersten Weltkrieg ging es mit der Gestaltungskunst schlagartig zurück. „Mit der politischen Neuorganisation Deutschlands gab es eine überschaubare Zahl von Landeskirchen, die Gesangbücher wurden einheitlich und industriell gedruckt“, bedauert Martz. Umso schöner wirkt der verspielte Einfallsreichtum der Altvorderen.

Bis 20. April im Gemeindehaus der Dambacher Erlöserkirche, Zirndorfer Straße 51. Geöffnet vor und nach Gottesdiensten sowie bei Veranstaltungen.

Verwandte Themen


Keine Kommentare