Der Koffer

9.9.2014, 11:30 Uhr
Schmetterlings-Kennerin: Christine Wittmann.

© De Geare Schmetterlings-Kennerin: Christine Wittmann.

Sie verreisen?“

„Nein“, sagte der Mann. „Kommen Sie in die Küche!“

In der Küche musste ein Rohr befreit werden, und die Spüle tropfte. Ein Wasserschlauch zusätzlich hier um die Ecke zu dieser Steckdose, dann konnte man eines Tages eine Spülmaschine anschließen, wenn man das wollte.

Es war eine leere Küche, aber man konnte sie sich voll vorstellen. Mit hellen Vorhängen und einer Erdbeerpflanze in einem großen Topf, mit einer roten Salatschüssel am Beistelltisch und Kuchen auf der Anrichte, Käsekuchen und im Emailletopf Suppe, die noch heiß ist. Der Eindruck war so nah, dass man die Wirklichkeit anfassen wollte, schütteln wollte wie ein Junge sein Kaleidoskop, damit es endlich das richtige Bild zeigt. Aber alles blieb leer.

„Ach so“, sagte der Klempner mit einem Blick auf die verlassenen Regale. „Sie ziehen um!“

„Nein“, sagte der Mann.

Er schaute dabei auf einen Koffer, der groß war und schwarz und der mitten im Flur stand wie ein Sarg, der darauf wartet, dass sie kommen und ihn mitnehmen. Der Klempner war vorhin darüber gefallen. Der Mann passte zu dem Koffer. Sie waren beide in gleicher Weise servil, an sich elegant und von Nüchternheit durchdrungen. Man konnte sie sich gut zusammen auf einem Bahnsteig vorstellen, wie sie unheilvoll schweigend den Zug erwarteten. Vermutlich gehörten sie zu den Freunden schwarzer Anzüge.

Eine Frau? Es war schwer, sich den Mann mit dem Friedhofsgesicht mit einer Frau vorzustellen und bei einem Akt, den man nicht feierlich vollziehen kann. Es war einfach nicht möglich, ihm irgendeine menschliche Beziehung zu unterstellen außer mit dem Koffer, der so entschlossen im Flur stand.

Am nächsten Tag brachte der Klempner die Ersatzteile derartig früh in die Karolinenstraße, dass er den Mann aus dem Bett holte.

„Ich habe noch geschlafen“, sagte der Mann. Aber die Wohnung sah aus, als wäre sie schon vor Stunden wach geworden – das Bett war nicht zerwühlt, in der Küche stand kein Stuhl schief, auf dem Flur lag keine vergessene Socke. Der Mann trug Anzug und Krawatte. Lediglich der Koffer stand offen in der Garderobe.

„Schlafen Sie in dem Ding?“, fragte er den Mann, unwirsch, weil er etwas Menschliches erwartet hatte – egal was – und nichts davon zu sehen war.

„Ja“, sagte der Mann.

Ja? Wie, ja? (Er hatte sich nicht verhört, das wusste er gleich.) „Da passen Sie doch gar nicht rein?“

„Ich falte mich“, sagte der Mann bescheiden. „Ich kann mich zusammenklappen, bis ich klein genug bin. Ich tue es, damit ich in Übung bleibe. Es liegt in der Familie.“

Er lächelte schüchtern. „Ich bin ein Zitronenfalter.“

Der Klempner beugte sich über die Spüle und grinste in sie hinein. Solche Leute kennt man ja. Sie wachen morgens auf, erinnern sich an nichts und erzählen später allen, sie wären eine Wärmflasche, mit dem russischen Zaren verwandt oder ein Kennedy, den sie bisher versteckt hatten.

Er meinte, „Sind Sie da nicht eher ein Regenschirm, wenn Sie zusammenklappen?“, aber der Mann spürte, dass man sich über ihn lustig machte und sagte nichts mehr.

Als er die Dichtungsringe einsetzte, stellte der Klempner sich den Zeitungsjungen vor, wie er am Morgen durch den Briefschlitz spähte und einen großen schwarzen Koffer am Boden liegen sah, in dem ein Mann schnarchte, in einem schwarzen Anzug, der sich leise mit dem Atem auf und ab bewegte, sanft wie Schmetterlingsflügel.

Als er eine Woche später mit dem Rohrteil zurückkam, hatte der Mann die Wände gelb gestrichen. Die Farbe rührte einen eigenartig an. Es war etwas an ihr, von dem man nicht gleich sagen konnte, was es war. Im ganzen Raum stand nur noch ein einziger, klappriger Stuhl, auf dem der Mann saß und einen Zylinder trug wie ein Zirkusdirektor in seiner Manege.

Alles um ihn herum war von einem Gelb, das nicht zu begreifen war, zart, hell und auf eine verwirrende Art und Weise lebendig, als würde die Wand versuchen zu atmen.

„Haben Sie renoviert?“, fragte er den Mann, mehr um irgendetwas zu sagen, während er das Zimmer anstarrte, mit Augen, die nicht glauben wollten, was sie sehen konnten.

Es waren Schmetterlinge. Tausende und Abertausende gelbe Schmetterlinge, einer am anderen, Flügel über Flügel, die die Wände bedeckten.

Es war zu viel. Einfach zu viel. Er ließ das Rohrteil fallen und rannte das Treppenhaus hinunter. Der Mann war verrückt!

Er betrat die Wohnung erst wieder, als ihn zwei Sanitäter begleiteten, kräftige Männer mit Erfahrung auf diesem Gebiet. Als sie ins Schlafzimmer kamen, kauerte der Mann auf dem Fensterbrett. Seine Augen waren vor Angst schwarz wie bei einem riesigen Insekt. Mit einer Hand hielt er sich am Rahmen fest, mit der anderen drückte er seinen Zylinder fest an den Kopf.

Und er sprang.

Niemand hätte ihn retten können. Der Klempner hastete zum Fenster, längst zu spät. Aber er sah etwas.

Es stürzte kein schwarzer Mann auf den Asphalt. Er breitete seine Flügel aus, die hell und gelb zur Sonne strahlten, erhob sich in den Wind und flatterte davon.

Zurück blieb nur der Koffer, leer und hohl wie eine Puppe, aus der ein Schmetterling geschlüpft ist.

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