Der lange Marsch in die Paprikasiedlung Zirndorfs

23.10.2014, 06:12 Uhr
Der lange Marsch in die Paprikasiedlung Zirndorfs

© Foto: Sabine Dietz

Am 2. Oktober 1944 verließen sie, ihre Eltern oder Großeltern ihre Heimatgemeinde Klek im Banat, um vor der Roten Armee und jugoslawischen Partisanen zu flüchten. In einem Tross von 640 Donauschwaben machte sich auch der damals knapp zwölfjährige Hans Petschner aus Zirndorf mit auf den über 1000 Kilometer weiten Fußmarsch in den Westen.

1400 Menschen lebten im vorletzten Kriegsjahr in dem etwa 100 Kilometer nördlich von Belgrad gelegenen Klek. Ihr Ortsleiter gab am 2. Oktober 1944 um 13 Uhr den Befehl zum Abmarsch, für manchen zu spät. Den Gefechten, die sich Wehrmachtssoldaten und Russen lieferten, fielen auch Flüchtende zum Opfer. 100 Kleker schafften es nicht, viele von ihnen, weil sie nicht mehr über den Fluss Bega kamen, bevor die Wehrmacht die Brücke sprengte.

Hans Petschner, vorgewarnt von einem Soldaten, der bei der Familie untergebracht war, gehörte mit Mutter, Großeltern und den zwei Geschwistern zu den Ersten, die sich aus Angst vor Gewehrsalven an die Hauswände gedrängt aus dem schachbrettartig angelegten Ort schlichen. Die Front befand sich in Sichtweite, die Furcht vor Beschuss sollte über Wochen zum Wegbegleiter des Buben werden. Unvergessen ist ihm, „wie wir uns bei Fliegeralarm immer wieder alle in die Gräben duckten“.

Die Nächte unter der Plane des Fuhrwagens, in Schuppen oder unter freiem Himmel verbringend, zogen die Menschen durch Regen und Kälte, bis sie am 22. Oktober die heutige Grenze zwischen Ungarn und Österreich und damit ein Stück mehr Sicherheit erreichten. Weiter ging es nach Manetin im Kreis Pilsen, wo die Petschners mit etwa 250 Personen Unterschlupf in einer Schule fanden.

Nach der Kapitulation Deutschlands wurden die Flüchtlinge am 8. Mai 1945 von den Tschechen des Landes verwiesen, nicht ohne ihnen vorher alles, was auch nur annähernd von Wert schien, abzunehmen. Einige Wochen lebten die Petschners anschließend auf dem Dachboden eines Bauernhofes bei Marienbad („die Leut’ hatten selbst nichts, wir haben uns von Haferschrot ernährt“). Dort mussten sie am 20. Juli ihr letztes Hab und Gut zurücklassen. Das Pferd konnte der Cousin noch gegen eine Kanne Milch eintauschen, bevor sich die Familie auf Aufforderung der Alliierten nur mit Handgepäck in Marienbad einfand. Von dort transportierten sie die Amerikaner in Lastwagen und Güterwaggons ins mittelfränkische Ansbach.

Im Nachkriegsdeutschland angekommen, wurden die Familien – Alte, Frauen, Kinder und Kranke, die Männer hatte die deutsche Wehrmacht rekrutiert – auf Landgasthöfe verteilt. Hans Petschner fand sich mit 63 Personen im Tanzsaal der Gaststätte Dorn in Bruckberg wieder. Als Schlafplatz dienten Strohlager, zum Kochen stand ein einziger Herd zur Verfügung.

Danach wurden die Menschen bei einheimischen Familien einquartiert, die Ressentiments waren groß. „Über die Runden brachten wir uns mit Hamstern“: In der Hoffnung, ein paar Kartoffeln oder ein Pfund Mehl zu ergattern, klopften sie bei Bauern und Müllern an. 1948 kehrte der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück.

Hans Petschner lebte bis 1954 in Bruckberg. Er besuchte die Volksschule, machte eine Ausbildung zum Schneider in Ansbach und lernte seine Frau Babetta kennen. Als er in Fürth in einer Schneiderei eine Stelle angeboten bekam, machte sich das junge Paar auf die Suche nach Bauland in Stadtnähe. Und wurde an der Oberasbacher Straße Zirndorfs fündig, wo ein Großgrundbesitzer Grund gegen Ratenzahlung verkaufte. Das lockte auch andere Flüchtlinge. So entstand die Paprikasiedlung, wie die Einheimischen die Ecke mit Ostmark- und Siebenbürgener Straße nannten, weil die Vertriebenen, die sich hier das eigene Heim vom Mund absparten, in ihren Gärten das würzige Gemüse aus dem Banat zogen.

Petschners Familie fand ihr Auskommen mit einem kleinen Laden, der über die Jahre immer größer wurde, bis er der erste Selbstbedienungsladen der Gegend war, bevor er 1972 der Konkurrenz der Supermärkte wich. Hans Petschner ist nie mehr zurückgekehrt, er wollte Klek so in Erinnerung bewahren, wie er es erlebte: „als Ort einer unbeschwerten Kindheit ohne Not“. Aber er zählte zu denen, auf deren Initiative am Waldfriedhof Zirndorfs ein Gedenkstein aufgestellt wurde, um an die Vertreibung zu erinnern und an die, die es nicht aus Klek heraus schafften. Für diejenigen, die sich von Ansbach aus in Franken und die ganze Welt verstreuten, war Zirndorf bis 2007 Ort vieler Heimattreffen.

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